Diesen Prozeß kann man anschaulich an Johann Sebastian Bach und seinem zweitältesten Sohn Carl Philipp Emanuel nachvollziehen. Wie die zahlreichen theologischen Bücher im Nachlaß Johann Sebastians zeigen, gründete sich die Geisteswelt des Thomaskantors auf einen orthodoxen Protestantismus, wonach der Künstler vor allem ein Diener Gottes (und der Obrigkeit) zu sein hatte. Carl Philipp Emanuel hingegen kam schon früh mit den Ideen der Aufklärung in Berührung und entwickelte offensichtlich ein distanzierteres Verhältnis zum christlichen Glauben. Nicht religiöse Erbauung, sondern allgemein die emotionale Bewegung des Menschen stand für ihn im Mittelpunkt. »Mich deucht, die Musik müsse vornemlich das Herz rühren«, heißt es denn auch in seiner Autobiographie von 1773. Vor diesem Hintergrund lassen sich die auf dieser CD enthaltenen Magnificat-Vertonungen der beiden Komponisten auf verschiedenen Ebenen miteinander vergleichen: zum einen in rein musikalischer, zum anderen in geistesgeschichlicher Hinsicht.
Das Magnificat zitiert einen Lobgesang Marias aus dem Lukas-Evangelium (I, 46-55) und wurde in seiner lateinischen Fassung bei Vespergottesdiensten an hohen Festtagen aufgeführt. Johann Sebastian Bach schrieb seine Vertonung zunächst in einer ersten Fassung in Es-Dur (BWV 243a) für das Weihnachtsfest 1723. Zwischen 1728 und 1731 fertigte er dann die hier eingespielte Version an, indem er die Instrumentation leicht abänderte und das Werk nach D-Dur transponierte.
Bachs Komposition besticht zunächst durch ihre Vielfältigkeit. Der Magnificat-Text ist insofern dankbar zu verarbeiten, als die einzelnen Verse von recht unterschiedlichem Inhalt sind und beispielsweise unmittelbar hintereinander von der Barmherzigkeit (»Misericodia«, Nr. 6) und der Gewalt (»Potentia«, Nr. 7) Gottes künden. So hat ein Komponist hier die Möglichkeit, auf engem Raum alle nur denkbaren Ausdrucksmittel zu verwenden. Bach setzt die einzelnen Textpassagen mit großem Einfühlungsvermögen um, wobei er mehrere zentrale Begriffe tonmalerisch hervorhebt. Auffallend sind in diesem Zusammenhang etwa das Wort »Deposuit« (»Er stieß hinab«, Nr. 8), dem eine energisch herausfahrende Figur unterlegt ist, oder der Abschnitt »Omnes generationes« (»alle Generationen«, Nr. 4), wo eine komprimierte, wogende Chorfuge die sich immer weiter fortpflanzende Menschheit illustriert.
Überhaupt sind die Chorsätze - wie meistens bei Bach - von einer beeindruckenden satztechnischen Dichte. Diese Dichte verkörpert nicht nur die Ästhetik jener Zeit, sondern soll zugleich die barocke Vorstellung vom göttlichen Weltgefüge abbilden, in dem alles nach einem höheren Plan zusammenwirkt. Dabei ist es für den Stil Johann Sebastian Bachs bezeichnend, daß der komplexe Tonsatz nie akademisch-spröde wirkt, sondern immer auch von einer mitreißenden Klanglichkeit ist.
Das Magnificat Carl Philipp Emanuel Bachs entstand 1749 und wurde nach Auskunft eines Thomasschülers noch zu Lebzeiten Johann Sebastians - also bis Mitte 1750 - zu einem Marienfest in Leipzig aufgeführt. Der 35jährige Komponist, der bis zu dieser Zeit kaum eigene Erfahrungen mit Vokalmusik gesammelt hatte, gestattete sich einige unüberhörbare Anleihen beim Magnificat seines Vaters. So sind die Abschnitte »Fecit potentiam« und »Deposuit« in beiden Vertonungen melodisch fast deckungsgleich. Doch obwohl Carl Philipp Emanuel manche Motive und Gestaltungsmuster übernahm, zeugen Ausdrucksgehalt und Satztextur von einem deutlich unterschiedlichen Stil. Exemplarisch für die Unterschiede zwischen beiden Werken wie für ihre Gemeinsamkeiten sind die jeweiligen Eröffnungssätze: In beiden Fällen gibt es eine strahlende, von Sechzehntelläufen geprägte Orchestereinleitung mit Streichern, Pauken, Holz- und Blechbläsern. Das in diesem ersten Vers zentrale Wort »Magnificat« wird darauf beide Male vom vollen Chor fanfarenartig - bei fast identischem Rhythmus - herausgestellt.
Während allerdings Johann Sebastian eine komplexe polyphone Struktur aufbaut, in der Gesangs- und Instrumentalstimmen nahezu gleichberechtigt ineinandergreifen, herrscht bei seinem Sohn ein homophon vorwärtsdrängender Duktus vor. Die Gesangsparts erscheinen als kompakter Block, dem das Orchester kaum als ebenbürtiger Dialogpartner, sondern vor allem als klangliches Fundament gegenübersteht. Wie der Eröffnungschor war wohl auch die Schlußfuge »Sicut erat« als Reminiszenz an den Vater gedacht; indessen zeugt dieser etwas langatmige Chorsatz nicht von besonderer Inspiration. Insgesamt gesehen stehen die Chöre hinter den (auch quantitativ bestimmenden) solistischen Gesangsnummern mit ihrem lyrischen, leicht opernhaften Einschlag zurück. Dabei erscheinen die Arien und das Duett »Deposuit potentes« in ihrem Ausdruck überaus differenziert und sorgfältig ausgearbeitet. Das Gefälle zwischen Chören und Solonummern im Magnificat des jüngeren Bach verdeutlicht beispielhaft den Wandel im Musik- und Weltverständnis jener Zeit: Nicht mehr das imaginierte Universum bewegt die Menschen am Ende des Barockzeitalters, sondern der neue Geist der Empfindsamkeit.
Quelle: Tobias Möller, im Booklet
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El Greco: Entkleidung Christi, 1590-95, Öl auf Leinwand, 165 x 99 cm, Alte Pinakothek, München |
TRACKLIST
J. S. BACH · C. P. E. BACH: MAGNIFICAT
Johann Sebastian Bach
(1685 - 1750)
Magnificat in D major, BWV 243
01 1. Magnificat anima mea (Chorus) 3'14
02 2. Et exsultavit spiritus meus (Soprano II) 2'35
03 3. Ouia respexit humilitatem (Soprano I) 2'23
04 4. Omnes generationes (Chorus) 1'23
05 5. Ouia fecit mihi magna (Bass) 2'12
06 6. Et misericordia (Alto, Tenor) 3'58
07 7. Fecit potentiam (Chorus) 1'47
08 8. Deposuit potentes (Tenor) 2'26
09 9. Esurientes implevit bonis (Alto) 3'14
10 10. Suscepit Israel (Soprano I,Soprano II, Alto) 1'57
11 11. Sicut locutus est (Chorus) 1'31
12 12. Gloria Patri (Chorus) 1'56
Carl Philipp Emanuel Bach
(1714 - 1788)
Magnificat Wq. 215
13 1. Magnificat anima mea (Chorus) 3'03
14 2. Oula respexit humilitatem (Soprano) 6'15
15 3. Ouia fecit mihi magna (Tenor) 4'27
16 4. Et misericordia (Chorus) 5'24
17 5. Fecit potentiam (Bass) 4'25
18 6. Deposuit potentes (Tenor, Contralto) 6'38
19 7. Suscepit Israel (Contralto) 4'18
20 8. Gloria Patri (Chorus) 1'58
21 9. Sicut erat (Chorus) 6'17
Total time: 77'27
Soloists:
BWV 243: Walter Gampert, Soprano I;
Peter Hinterreiter, Soprano II;
Andreas Stein, Alto;
Theo Altmeyer, Tenor;
Siegmund Nimsgern, Bass Baritone
Wq. 215: Elly Ameling, Soprano;
Maureen Lehane, Contralto;
Theo Altmeyer, Tenor;
Roland Hermann, Bass
TÖLZER KNABENCHOR
COLLEGIUM AUREUM
Recorded at Lenggries, July 1966 (Wq. 215)
Mastering: Dr. B. Bernfeld
Series Manager. Dr. Chr. Eisert
Front Cover: Alte Pinakothek, München · El Greco (1541-1614): "Undressing of Christ"
(P) + (C) 1995
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Originalzeichnung Arthur Rimbaud |
ARTHUR RIMBAUD · LE BATEAU IVRE | PAUL CELAN · DAS TRUNKENE SCHIFF |
Comme je descendais des Fleuves impassibles, | Hinab glitt ich die Flüsse, von träger Flut getragen, |
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CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 31 MB
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Dem Infopaket liegt ein deutsch-französischer Text über Arthur Rimbaud bei (© Dieter Koller)
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