Jean-Philippe Rameau: Les grands motets (La Chapelle Royale)

Wie seltsam ist doch die Karriere von Jean-Philippe Rameau! 1683 in Dijon geboren, begegnen wir ihm an diversen Posten in verschiedenen französischen Städten. Nach einem kurzen Aufenthalt in Italien ist er Kapellmeister an der Kathedrale von Avignon, dann an der Kathedrale von Clermont-Ferrand. Diese Posten verläßt er 1706 um sich zwecks der Veröffentlichung seiner Pièces de clavecin nach Paris zu begeben. 1709 kehrt er in seine Heimatstadt zurück, wo er in der Nachfolge seines Vaters Organist an Notre-Dame wird. Von 1713 bis 1715 ist er auch noch Organist in Lyon und anschließend, nach einem Aufenthalt in Montpellier, nimmt er erneut sein Amt in Clermont-Ferrand auf, um sich jedoch wiederum von seinem Vertrag loszumachen und sich dann 1723 endgültig in Paris niederzulassen. In seinem 1732 herausgegebenen Musikalischen Lexikon präsentiert ihn uns Johann Gottfried Walther als Organisten, Theoretiker und Komponisten von Cembalowerken. Welchen Weg sollte Rameau noch in der Haupstadt hinter sich legen!

Bald nach seiner Ankunft in Paris tritt Rameau in Kontakt mit einigen maßgebenden Kreisen, worunter die Gesellschaft des Generalsteuerpächters Le Riche de la Pouplinière, der ihn von 1731 bis 1752 mit der Leitung seines Orchesters betraut. Erst 1733, mit fünfzig Jahren, bekundet Rameau mit Hippolyte et Aricie eindeutig seinen Willen, der musikalischen Tragödie ihren vergangenen Ruhm wiederzuschenken.

Zu Anfang des 18. Jahrhunderts war Frankreich durch die Anhänger und Gegner der italienischen Musik im Streite zerrissen. Der Abbé Raguenet und Lecerf de la Viéville gingen mit ihren Parallèle, Comparaison, Défense du Parallèle und Réponse à la Défense du Parallèle dem berühmten Querelle des Bouffons (Buffonistenstreit) voraus, der 1752 während der Aufführung italienischer Buffo-Opern ausbrach. Rameaus Opernwerk fallt also zwischen diese beiden großen Streitangelegenheiten, und wäre dann die nach dem Tode Rameaus ausgesprochene Meinung des Barons Grimm, so schroff sie auch formuliert sei, nicht die einfache Feststellung, daß sich die Musik zu der Epoche in Paris, Wien, London und Mannheim sehr zu ähneln begann und die Suche nach einer spezifisch französischen Musik zum Scheitern verurteilt war?: »Ich will sterben, wenn Rameau und seine ganzen Noten jemals im restlichen Europa für etwas gelten!«

Die Motetten von Rameau lassen sich schlecht innerhalb eines historischen Rahmens festlegen. Als auf Verlangen von Ludwig XIV. Dumonts Motetten für die Königliche Kapelle herausgegeben wurden, konnte man annehmen, daß die französische Motette schon zu höchster Ausdrucksform gelangt war. Dumonts Nachfolger an der Königlichen Kapelle oder an anderen großen Kulturzentren paßten sich in der Tat lediglich der normalen Entwicklung eines festgesetzten Schemas an. Wenn Komponisten wie Delalande, Campra oder Charpentier öfters auch Blasinstrumente im Orchester hinzufügten, folgten sie somit nur der von Lully vorgeschlagenen Erweiterung des Orchesters, nicht nur in seinen Opern, sondern auch in einigen seiner seltenen Motetten.

Aus dem kompakten zweichörigen Motettenstil mit den untereinander engverstrickten Solisten (kleiner Chor) und großem Chor entwickeln sich Abschnitte, die sich immer deutlicher abheben und zur Unterteilung der Motette in mehrere Nummern führen soll (Chor, Solo, Duo, Trio …) mit variierender Instrumentalbegleitung.

Jean-Jacques Caffieri: Jean-Philippe Rameau, ca 1760.
Terracotta. Musée des beaux-arts, Dijon [Quelle]
Wenn Rameaus Motetten uns unter verschiedenen Gesichtspunkten wie eine logische Fortsetzung der Werke seiner Vorgänger anmuten, erscheinen sie uns nicht wie eine Endsumme. Ganz im Gegenteil, wie viele andere seiner Werke bezeugen sie den Drang, über die Grundlagen eines authentischen französischen Stils nachzudenken. Raynals Reaktion in den Nouvelles Littéraires nach der Aufführung von In convertendo bei den Concert Spirituel im Jahre 1751 ist ziemlich verständlich: »Rameaus beste Freunde waren gezwungen, zuzugeben, daß es weder strahlende Rezitative, noch majestätische Chöre, noch Sinfonien, noch Bilder, noch Ensembles in seiner Musik gab. Mondonville ist nicht entthront worden und Rameaus Rivalität hat die Achtung, die man für seine Motetten hatte, noch verdoppelt.«

Hinter diesem harten Kommentar errät man eine sorgfältig organisierte Feindseligkeit. Als das Concert Spirituel erstmals ein wichtiges Werk von Rameau präsentierte (diese Motette), kann man sich leicht ausdenken, daß diese Entscheidung nur auf Höflichkeitszwang beruhte. Wir werden später sehen, weshalb diese, zweifelsohne berechtigten Kritiken uns in Wirklichkeit die Erklärung für die große Würde der Motetten von Rameau geben.

Dies führt uns dazu, den zeitlichen Zusammenhang der Komposition der Motetten festzulegen. Von den fünf uns erhaltenen Motetten (worunter die Authentizität einer in Frage gestellt ist), wurde nur Laboravi als Beispiel des Fugenstils im Traité de l'Harmonie réduite à ses principes naturels (1722) gedruckt. Der Katalog der 1713 gegründeten Akademie der schönen Künste von Lyon erwähnt in den ersten Nummern ihres Inventars drei Motetten von Rameau: Deus nostrum refugium, Quam dilecta und In convertendo. Es scheint also praktisch sicher, daß diese Motetten vor Rameaus Ankunft in Paris entstanden. Schrieb er sie in Lyon oder in Clermont? Anläßlich der Aufführung von In convertendo im Jahre 1751 kündigt der Mercure eine »alte Motette von M. Rameau« an.

Wenn man die Entwicklung der geistlichen Musik im 18. Jahrhundert verfolgt, stellt man fest, daß sie sich immer mehr der weltlichen Musik annähert. Diese Orientierung wird schon bei der Gründung von Musikgesellschaften wie die Concert Spirituel in Paris (1725) und der Schöpfung wahrer Konzertwerke wie die Totenmesse von Gossec (1760) deutlich. Jean-Jacques Rousseau ist sich dieser Entwicklung bewußt: »Die Franzosen sind in dieser Musikgattung erfolgreicher als im Französischen, da die Sprache (Lateinisch) weniger ungünstig ist, aber sie versuchen es viel zu sehr auszuarbeiten, und wie es ihnen der Abbé du Bos schon vorgeworfen hat, machen sie zu viel Wortspielereien. Im Allgemeinen hat die lateinische Musik ihrer Bestimmung zufolge nicht den genügenden Ernst. Man soll nicht nach Imitation trachten wie bei der Theatermusik: die geistlichen Gesänge sollen nicht den Tumult der menschlichen Leidenschaften repräsentieren, sondern nur die Majestät dessen, für den sie bestimmt sind, und die seelische Gleichmut derer, die sie ausdrücken.«. (J.J. Rousseau, Dictionnaire de Musique, s.u. Mottet) In vielen Schriften über die Musik, worunter die von Abbé du Bos oder Lecerf de la Viéville, findet man dieselbe Art Bemerkungen zugunsten eines religiösen Stils, der sich vom »besonderen Ausdruck jedes Verses und jedes Wortes« unterscheidet.

Jean-Philippe Rameau: Traité de l'harmonie
réduite à ses principes naturels, Paris 1722,
bei Jean-Baptiste-Christophe Ballard [Quelle]
Rameaus Motetten entsprechen diesem Wunsch vollkommen; hinzu kommt, daß sie wie ganz originelle Schöpfungen erscheinen, was noch bemerkenswerter ist, da sie einem Stil anzugehören scheinen, der für die Epoche ihrer Entstehung einen ziemlichen Vorsprung bedeutet. Sie sind in ganz individuelle Nummern unterteilt. Was einen schon bei den ersten Takten von In convertendo beeindruckt, ist die Konstruktion der Melodielinie; in den Rezitativen oder Arien ist der Stil, wenngleich syllabisch, von äußerstem Manierismus gezeichnet, der viel Raum für Verzierungen läßt. Nur einige ausgewählte Worte wie »laetantes«, »exultatione« oder »magnificavit« werden durch Vokalisen zum Ausdruck gebracht. In demselben Sinne finden wir in der Arie Converte Domine in In convertendo auf »sicut torrens in austro« große, fast italienische Melodieaufschwünge, die von schnellen auf- und niedersteigenden Tonleitern der Flöten und Violinen unterstrichen werden, was einen recht theatralen Effekt vermittelt.

In den Chören alternieren zwei Stile: Einerseits die homorhythmischen Abschnitte, deren Vortrag von den Prinzipien der Rhetorik diktiert wurde, andererseits imitatorische Abschnitte. Der Orchestersatz wurde mit besonderer Sorgfalt ausgearbeitet. Je nachdem verdoppelt das Orchester die Stimmen oder spielt eine unabhängige Rolle, die mit einer erstaunlichen Geschmeidigkeit ersonnen ist. In Bezug auf den Aufbau der einzelnen Nummern sind die häufige Anwendung der A-B-A-Form und die zahlreichen Instrumentaleinführungen, die das Anfangsmotiv der Stimmpartien ankündigen, auffallend.

Aber, es stimmt, daß wir hier nicht die ungezwungene Pracht der Sinfonien und Chöre eines Delalande finden. Alles wird mit einer inneren Intensität ausgedrückt, die der Musikentwicklung des »Jahrhunderts der Aufklärung« sehr fremd ist. Man denke nur an die Tatsache, daß im Jahre 1751, als In convertendo bei den Concert Spirituel gegeben wird, Johann Stamitz seine Sinfonien in Paris spielen läßt.

Quelle: Jéròme Lejeune (Übersetzung Escha), im Booklet

El Greco: Die Anbetung des Namens Jesu, 1578, Öl auf Leinwand, 140 x 110 cm,
Kapitelsaal, Kloster San Lorenzo, El Escorial [Quelle]

Track 13: Quam dilecta: Choeur: Domine virtutum


TRACKLIST

JEAN-PHILIPPE RAMEAU (1683-1764)

Grands Motets à grand choeur, soli, orgue et orchestre

In convertendo

01 Récit (T) In convertendo 2'46
02 Choeur Tunc repletum est 3'30
03 Duo (S,B) Magnificavit Dominus 3'49
04 Recit (B) et choeur Laudate nomen Dei 6'34
05 Trio (S,A,B) Qui seminant 2'32
06 Choeur Euntes ibant et flebant 4'59

Quam dilecta

07 Air (S) Quam dilecta 3'27
08 Choeur Cor meum et caro mea 2'54
09 Air (T) Et enim passer invenit 3'05
10 Trio (S,S,B) Altaria tua 1'50
11 Récit (T) et choeur Beati qui habitant 2'59
12 Air (B) Domine, Deus virtutum 2'53
13 Choeur Domine virtutum 2'43

14 Laboravi 2'33

Totale 47'08

SUZANNE GARI, soprano
LIEVE MONBALIU, soprano
HENRI LEDROIT, contre-ténor
GUY DE MEY, ténor
STEPHEN VARCOE, baryton
PETER KOOY, basse

LA CHAPELLE ROYALE
avec la participation de membres du Collegium Vocale de Gand
Dir. PHILIPPE HERREWEGHE

Enregistrement février 1982
Prise de son Claude Armand - Direction artistique Michel Bernard
Illustration: El Greco, La Glorification du nom de Jésus (détail), Escorial
(P) 2000


Blicköffnungen



Das Fenster im Werk von Pierre Bonnard

Pierre Bonnard: Fenêtre ouverte sur la Seine à Vernonnet
Im Werk von Pierre Bonnard kommt das Motiv des Fensters immer wieder vor. Es lässt sich an ihm der Weg von einer herkömmlichen Sicht auf die Welt hin zu einer bewegten Wahrnehmung ableiten, die einen begrifflich definierten äusseren und einen inneren Raum der Vorstellung und des Traums zusammenführt.

«Die Fenster sind das Beste in einem Museum», soll Pierre Bonnard (1867–1947) nach seinem letzten Besuch des Louvre geäussert haben. Was konnte er damit gemeint haben? Bot ihm der Blick durch die Fenster nach einem vielleicht ermüdenden Gang durch die Säle des Museums eine willkommene Erholung? Wollte er damit gar sagen, dass die Natur noch wichtiger und schöner – eben besser – sei als die Kunst? Oder aber wollte er zum Ausdruck bringen, dass er die Bilder als Fenster verstehe, die den Blick in eine Aussen- und Innenwelt zugleich zu öffnen vermögen?

Dieses oft zitierte Bonmot von Bonnard ist wohl so rätselvoll wie seine Bilder, die sich nie eindeutig festmachen lassen, die den Zustand in der Schwebe austarieren. Das Fenster als ein Ort des Dazwischen, als eine Möglichkeit, den Blick des Betrachters zu steuern und in Bewegung zu halten, spielt in Bonnards Schaffen eine zentrale Rolle. In den folgenden Ausführungen gehen wir der Rolle des Fensters im Werk des Künstlers nach und zeigen an den verschiedenen Auffassungen dieses einen Motivs den Wandel in Bonnards Anschauungsweise und Haltung. Wir wollen die These wagen, dass sich am Motiv des Fensters Bonnards Weg der sich ändernden Wahrnehmung aufzeigen lässt: Zuerst ist es ein Blick von aussen, ein Blick des Flaneurs auf die Strassen mit ihren Hausfassaden und den Fensterfronten, er wandelt sich zum Blick aus dem Fenster des vertrauten Interieurs auf die lichterfüllte Landschaft der Normandie und auf die farbintensive Gegend in Südfrankreich. Im Spätwerk schliesslich finden sich Fenster als Elemente der als Farbmosaike aufgefassten Endloslandschaften. Sie führen den Blick nicht mehr auf einen realen Naturraum, sondern einen traumartigen Innenraum zu.

Pierre Bonnard: Das offene Fenster
Der Blick von aussen

Pierre Bonnard entschied sich für die Laufbahn des Künstlers auch deswegen, weil sie ihm ein kontemplatives Leben als Beobachter erlaubte. In seinem frühen Werk sind bewegte Pariser Strassenszenen bestimmend. Er hat partizipiert am aufkommenden, pulsierenden Leben der Grossstadt und schildert es in flüchtigen Szenen. Er ist hier der Flaneur im Sinne Walter Benjamins. Grossstadt, das sind für Bonnard zum einen die Menschen, die Passanten, die er im Vorübergehen erhascht. Dann sind es aber auch die Strassenzüge, flankiert von langen Hausfassaden mit rhythmisch angelegten Fensterfronten. Im Bild «Der Drehorgelspieler» (1895) scheint sich der Künstler mit dem Musikanten zu identifizieren, der wie ein Repoussoir den Blick hinüberleitet zur hellgelben Fassade, die das Bild im Hochformat bestimmt und strukturiert. Zwei Fenster mit graublauen Läden brechen die Hauswand auf. Wie das Tor ist auch ein Fenster geöffnet und lässt einen Kopf erahnen, lässt Leben im Innern des Hauses vermuten. Auch in der Szenenfolge der vom Kunsthändler Ambroise Vollard in Auftrag gegebenen Lithografienserie «Quelques aspects de la vie moderne» (1895–1898) führt der Blick auf die Strassen der Stadt. Im zum Zyklus gehörenden Blatt «Maison dans la cour» (1895/96) schaut man mit dem Künstler aus seinem Zimmer auf ein anderes Haus mit symmetrisch angelegten Fenstern, die wiederum in Andeutungen Leben hinter dem Fenster erahnen lassen.

Pierre Bonnard: Das Fenster
Das Fenster als Ort des Dazwischen

Bonnard hat sowohl die Villa «Ma Roulotte», die er 1912 in Vernonnet, einem Ort in der Normandie, erwarb, wie die 1925 gekaufte Villa «Le Bosquet» im südfranzösischen Le Cannet so eingerichtet, dass sie ihm gleichsam als Bühne mit Requisiten für seine Werke dienten. Er hat Paris verlassen, um der Natur näher zu sein. Anders als im Werk des von Bonnard verehrten Monet, der im nahen Giverny lebte, führt bei Bonnard nicht mehr das sich von Augenblick zu Augenblick wandelnde Licht Regie. Bekannt sind Bonnards akribische Notizen zu Wetterlagen mit all ihren Nuancen. Er war durchlässig für die Farben, aber auch für Wärme und Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit. Es ist die Zeit seiner panoramatisch offenen Landschaftsbilder wie «Femme dans un jardin» (1914) oder «Paysage au Cannet» (1928), in denen sich Wiesen, Wasser, Büsche, Bäume und Himmel zum farbigen Teppich verweben. Keine Stelle im Bild ist gewichtiger als eine andere. Es entstehen nun auch die stillen Interieurs, die Tischszenen mit Marthe, der Lebenspartnerin des Künstlers, als Hauptfigur. Und diese Räume öffnen sich. Fenster führen den Blick in die tonige Landschaft der Normandie. In «Fenêtre ouverte sur la Seine (Vernon)» von 1911 halten wir uns als Betrachter im Innenraum auf. Das Augenmerk aber gilt der Landschaft draussen vor dem Fenster. In den Farben und den schemenhaften Angaben schwingt Bonnards Sensibilität für die Jahreszeiten und die tägliche Wetterlage mit.

Im Bild «La porte-fenêtre ouverte» um 1921, werden Fenster und Fenstertüre – wie es der Titel besagt – zum bildbestimmenden Motiv. Sie sind auch die wichtigsten Kompositionselemente. Wir schauen aus einem Innenraum, der durch einen in die Fläche des Bildes geklappten Tisch bestimmt ist, hinaus in die Landschaft mit Wiesen, Bäumen und leuchtend farbigen Himmelsfeldern. Durch die flächige Staffelung der Naturangaben scheint das Draussen zum Greifen nah, die Distanzen sind nicht mehr messbar. Die durch ihre nuancierten Rottöne stark ins Blickfeld gerückte Türe unterteilt die Bildfläche nicht, sie fügt sich ins Bildganze ein und führt die Bereiche des Innen- und Aussenraums auf einer «Seh-Ebene» zusammen.

Pierre Bonnard: L’atelier au mimosa, 1946,
Musée nationale d’Art Moderne Centre Pompidou, Paris
In den Motiven aufgehen

Die am Türknauf hängende gelbe Tasche wiederum verbindet sich farblich mit Flasche und Brot auf dem mit gelbem Tuch bedeckten Tisch. In diesem und ähnlichen Bildern wird Bonnards Streben deutlich, die seit der Renaissance gültige perspektivisch fokussierte Sicht aufzubrechen. Anders als die Kubisten, die das herkömmliche Raumverständnis ebenfalls hinterfragten, indem sie die Figuren und Dinge zu flächigen, gleichrangigen Sehdaten machten und in neue bildimmanente Strukturen überführten, wählt Bonnard den umgekehrten Weg: Er geht nicht auf Distanz zu den Dingen, er geht selber in seinen Motiven auf. Er hat sie sich in einem Prozess der Verinnerlichung angeeignet und sie seiner Vorstellungswelt gemäss verändert. Wie Cézanne fordert auch Bonnard auf seine Weise ein vorbegriffliches, unmittelbares Sehen. Längst hat Jean Clair diesen Vorgang in Worte gefasst: «Sie [die Malerei] muss bestrebt sein, das vom Blick nicht Erfasste zu zeigen, was einer Berücksichtigung jener schweifenden, nicht hierarchischen, gewissermassen kindhaften Sicht desjenigen gleichkommt, der, bevor er überhaupt etwas erkannt oder benannt hat, mitten ins Sichtbare eindringt.»

Dem entspricht auch Bonnards Streben, «das zu zeigen, was man mit einem Mal sieht, wenn man unversehens einen Raum betritt». Diese oft zitierte Aussage des Künstlers macht bewusst, dass er sich von der überlieferten Konstruktion der statischen, perspektivischen Wahrnehmung verabschiedet hat und – hierin auch wesentlich inspiriert durch die Kunst der Japaner und ihre Mehrfachperspektive – eine bewegte Sicht sucht.

Pierre Bonnard: Der Tisch beim Fenster
Das Fenster als Bild

Seit 1918 logierte Matisse in einem Hotel in Nizza, unweit von Bonnard, der in Le Cannet wohnte. Es ist nun die Lebensphase, da Bonnard intensiven, freundschaftlichen Kontakt mit ihm pflegt. Auch in dessen Werk gibt es wunderbare Fensterbilder. In einem kleinformatigen Bild wie «Nice, cahier noir» (1918) finden sich viele von Matisses Bild-Aussagen zusammengefasst. Sein Zimmer mit dem hübschen Spiegeltisch und dem Blick auf die Strandpromenade lieferte ihm die oft abgewandelten Motive. Arabeske Formen geben dem Ganzen eine elegante, tänzerische Note. Im bereits 1914 entstandenen Bild «Porte-fenêtre à Collioure» hat er wiederum über das Motiv des Fensters zu einer besonders radikalen Bildlösung gefunden. Das Fenster fungiert nicht mehr als Raumteiler. Es gibt keinen Innen- und Aussenbezirk mehr, es gibt nur die opake Fläche des Fensters, das selber zum Bild wird. Matisse stösst hier – um mit Jean Clair zu sprechen – «ohne Zweifel das Fenster zu, das in der Malerei seit Alberti ‹offen› stand». Bonnard tut dasselbe auf seine Art. Auch in seinen Werken entzieht sich die Dingwelt mehr und mehr der Benennbarkeit, und auch seine Malerei unterläuft subtil die seit der Renaissance gültigen Kompositionsprinzipien.

Ein Fenster ins eigene Innere

Bonnard öffnet nicht nur Bilder in den Naturraum, er gewährt auch Einblick in den eigenen inneren Raum, seinen Seelenraum. Immer weniger geht es ihm im Laufe der Jahre um begrifflich fassbare Bildangaben. Er erreicht in seinen Werken eine vor-ikonografische Ebene. Nach wie vor spielt das Motiv des Fensters eine Rolle, es eröffnet nun vollends Zugang zu Traumwelten. Ein spätes Bild wie «Paysage au toit rouge» (1945/46) verweist auf Bonnards Verehrung der Malerei von Odilon Redon. Beide schöpfen ihre Inspiration aus der Welt der Vorstellungen und Phantasien, die allerdings nie ganz von der gelebten Wirklichkeit losgelöst sind. Auch bei Redon finden wir neu- und eigenartig verstandene Fensterbilder wie «Das Kirchenfenster oder Der geheimnisvolle Garten» (um 1905) und «Das Kirchenfenster oder Die Allegorie» (um 1907).

Pierre Bonnard: Grande salle à manger sur le jardin
(Speisezimmer mit Garten), 1934/35
Redon deutet den Topos des Fensters, das er in der Form eines gotischen Spitzbogens gibt, um: Es öffnet nicht den Blick in eine real definierte Aussenwelt, es schenkt Einblick in phantastische Räume, in denen erstes Leben in embryonalen Zellen zu keimen scheint. Redon erfindet mit seinen Fensterbildern ein Äquivalent zu einer inneren Wirklichkeit, die sich Formgebilden bedient, die den damaligen neuen wissenschaftlichen Illustrationen entliehen sein könnten und gleichzeitig in eine phantastisch anmutende Bildwelt überführt sind.

Bonnard verfügt in seinem reifen Schaffen über eine ähnliche Freiheit und traumwandlerische Sicherheit, verschiedene Realitätsebenen miteinander zu verbinden. Im späten Fensterbild «L'atelier au mimosa» (1938–1946) verzahnen sich die Diagonale eines Geländers mit dem vertikalen Fensterrahmen zum flächig verknappten Innenraum. Im linken unteren Bildrand schält sich, nur schemenhaft vermerkt, ein menschlicher Kopf aus dem farbigen Ambiente heraus. Die Fenstersprossen wiederholen die vertikale und horizontale Bildstruktur fugenartig. Umso freier entfaltet sich das Bild innerhalb des Fenstergevierts; der blühende Mimosenstrauch zieht den Blick auf sich. Er glüht förmlich im lichten Gelb, das flockig aufgetragen zu vibrieren scheint. Alle anderen Farbangaben deuten Gegenständliches wie Bäume und Häuser nur an. Vorder- und Hintergrund scheinen ineinander aufzugehen. Es ist eine bewegte Blicklandschaft, denn auch das Sehen des Betrachters wird zum schöpferischen Mittun aufgefordert, es wird aktiviert. Ein Fenster öffnet sich auf einen (Natur-)Raum, der vom Schauen und Erleben durchdrungen ist, der Gegenwart und Vergangenheit verschmilzt und Unterschiede zwischen nah und fern aufhebt.

Quelle: Angelika Affentranger-Kirchrath, in der NZZ vom 6.4.2013

Dr. Angelika Affentranger-Kirchrath ist Kuratorin an der Villa Flora in Winterthur und Kunstpublizistin.

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Bereits vor sechs Wochen erschienen hier Grands motets, damals von Henry Desmarest (1661-1741).

Philippe Herreweghe ist nicht nur im Fach der Alten Musik tätig, sondern pflegt auch das Repertorie des Fin de Siècle: Gustav Mahler: Das Lied von der Erde. (Mit einem Vorgriff auf Giovanni Segantini.)

Über Bonnards impressionistische Zeitgenossen in Russland, mit Bildern und mit Streichquartetten von Tschaikowski.


CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 22 MB
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