Domenico Gallo: 12 Triosonaten

Als Igor Strawinsky im Jahre 1919 der Bitte des genialen Impresario Serge Diaghilew nachkam, Léonide Massines Ballett Pulcinella noch Vorlagen des neapolitanischen Komponisten Giovanni Battista Pergolesi zu vertonen, wußte er nicht, daß von den zur Bearbeitung ausgewählten Werken nur die Hälfte tatsächlich von Pergolesi stammte. Die andere Hälfte - dies ergaben intensive Quellenforschungen seit der Mitte unseres Jahrhunderts - gehen in Wirklichkeit auf andere Komponisten des 18. Jahrhunderts zurück. Zählte Pergolesi bereits zu Lebzeiten zu den berühmtesten Komponisten seiner Zeit, so ging nach seinem frühen Tod - er starb im beinahe jünglingshaften Alter von 26 Jahren - von seinem Werk eine fast geheimnisvolle Anziehung aus. Pergolesi, dessen Opern und Intermezzi im 18. Jahrhundert auf allen europäischen Bühnen gespielt wurden, war eine Schlüsselfigur dieses Zeitalters. Besonders eindrucksvoll spiegelt dies die einzigartige Rezeption seines als Vermächtnis begriffenen Stabat mater und des Intermezzos La serva padrona wider, an dem sich, 16 Jahre nach Pergolesis Tod, am 1. August 1752 in Paris eine opernästhetische Debatte, der sogenannte »Buffonistenstreit« entzündete. Die Verklärung Pergolesis, sein früher legendenhafter Ruhm, brachte es mit sich, daß Pergolesi im 18. Jahrhundert zahlreiche Werke fälschlich zugeschrieben wurden; diese machen, wie man heute weiß, mehr als die Hälfte des Werkverzeichnisses aus. So wurde auch in englischen Drucken - in England galt Pergolesi ab den 1760er Jahren als Modekomponist - einige Musik von geschäftstüchtigen Verlegern als Musik Pergolesis herausgegeben.

Die Erforschung der Vorlagen zu Strawinskys Pulcinella ist dem Musikwissenschaftier Helmut Hucke zu verdanken. Hierzu zählen auch die vorliegenden zwälf Triosonaten, auf die Strawinsky zurückgriff. Strawinsky verwendete allein sieben Sätze aus sechs der zwölf Triosonaten. Es sind dies, den Nummern im Ballett Pulcinella folgend, die Sätze Ouverture (Triosonate I, G-Dur, 1. Satz), Scherzino (Triosonate II, B-Dur, 1. Satz), Allegro (Triosonate II, B-Dur, 3. Satz), Andantino (Triosonate VIII, Es-Dur, 1. Satz), Allegro assai (Triosonate III, c-Moll, 3. Satz), Allegro - alla breve (Triosonate VII, g-Moll, 3. Satz), Allegro assai (Triosonate XII, E-Dur, 3. Satz). Daß die Triosonaten eine Hauptquelle für Strawinskys Pulcinella darstellten, unterstreicht ein Blick auf die Rahmensätze der beiden Werke; die Vorlage zur einleitenden Ouverture Strawinskys ist der erste Satz der ersten Triosonate, der Schlußsatz im Pulcinella entspricht dem Schlußsatz der letzten, der zwölften Triosonate.

Igor Strawinsky, Autograph
Erschienen sind die in dieser Einspielung versammelten Triosonaten unter Pergolesis Namen in London um das Jahr 1780. Der Titel des Druckes lautet Twelve Sonatas for two Violins and a Bass or an Orchestra compos'd by Gio. Batt.a Pergolese. Author of the Stabat mater. The Manuskripts of these Sonatas were procured by a curious Gentleman of Fortune, during his travels through Italy. Printed for Mr. Webb Organist of Windsor and sold by R. Bremner. Die Nachfrage nach diesen Werken muß groß gewesen sein, denn es erschienen bald darauf eine zweite und 1795 bei Preston and Son eine dritte Auflage. Dieser Erfolg ist zum einen mit dem Geschäftssinn des Verlegers zu erklären, der es offensichtlich verstand, durch die Hinweise auf dem Titelblatt, daß es sich beim Komponisten um den Schöpfer des Stabat mater handelte und die Werke von einem »curious gentleman of fortune« aus Italien mitgebracht wurden, das Interesse der Käufer zu wecken. Zum anderen gründet sich der Erfolg der Sonaten auch auf die Beliebtheit, die die Triosonate im Londoner Musikleben - in London setzte das Interesse on »alter« Musik bereits früher ein als auf dem Kontinent - genoß, sodaß um 1780 Werke für diese Besetzung immer noch gekauft wurden. Zweifel an der Autorschaft Pergolesis äußerte bereits 1789 der englische Musikschriftsteller Charles Burney im vierten Band seiner General History of Music. In den 1950er Jahren schließlich entdeckte man in italienischen Handschriften des 18. Jahrhunderts die Nummern II, VI, VII, IX und X unserer Triosonaten; als Komponist wird Domenico Gallo genannt. Mit einiger Sicherheit kann man davon ausgehen, daß auch die restlichen sieben Triosonaten Werke dieses Komponisten sind.

Über Domenico Gallo ist nur sehr wenig bekannt. Der belgische Musikforscher François-Joseph Fétis beschreibt in seiner Biographie universelle des Musiciens III (1866) Gallo als einen in Venedig um 1730 geborenen Komponisten und Violinisten, der überwiegend Kirchenmusik schrieb und für seine Violinsonaten und Symphonien bekannt war. Robert Eitner erwähnt in seinem Biographisch-bibliographischen Quellenlexikon (1959) als Werk Gallos ein um 1750 in Venedig aufgeführtes Oratorium. Im Druck erschienen von Gallo in Venedig eine Sammlung mit sechs Sonaten für zwei Violinen und Basso continuo sowie in London 1755 eine Sammlung mit sechs Sonaten für zwei Flöten und Basso continuo. Eine Ouverture des Komponisten findet sich in der in Paris 1758 veröffentlichten Sammlung Sei Ouverture a piustromenti op. 6, und ebenfalls vertreten ist Gallo in der in Edinburgh 1761 herausgegebenen Collection of Marches and Airs. Ungedruckt geblieben ist eine Sammlung mit 36 weiteren Triosonaten. Mehrere Musikhandschriften mit Kirchenmusik Gallos sind im Besitz der Bibliothek des Konservatoriums in Neapel. Helmut Hucke wies in diesem Zusammenhang darauf hin, daß Domenico Gallo möglicherweise der neapolitanischen Musikerfamilie Gallo entstammt.

Giovanni Battista Pergolesi,
Kupferstich von P. Pirola
Komponiert wurden die vorliegenden Triosonaten vermutlich in den 1750er oder 1760er Jahren. Die Werke entstanden somit in einer Zeit, die zu den farbenreichsten und vielfältigsten Abschnitten der europäischen Musikgeschichte zählt. Die Jahrzehnte um 1750 - in der Musikgeschichtsschreibung als Vor- bzw. Frühklassik bezeichnet - charakterisierte der Musikwissenschaftler Hans Heinrich Eggebrecht treffend als »Aera mobilitatis«, als »Epoche der Beweglichkeit«. Das Prozeßhafte, stetig sich Verändernde dieser Zeit läßt sich auch an Gallos Triosonaten ablesen. Gerade das Mit- und Nebeneinander von traditionellen und neuartigen Kompositionstechniken - die Verbindung von gearbeitetem und empfindsamen Stil, teilpolyphoner und homophoner Gestaltung - ist für die Triosonaten bezeichnend. In ihrer Dreisätzigkeit (schnell bzw. bewegt - langsam - schnell) sind die Triosonaten Werke modernen Zuschnitts. Barocker Tradition verpflichtet hingegen sind die Fugensätze. Mit Ausnahme der Sonaten II, IV und X schließt oder eröffnet Gallo seine Triosonaten mit einer Fuge. Den neuen Anspruch an die Musik, Gefühle unmittelbar auszusprechen, originell und expressiv zu sein, verwirklichen am meisten die Ecksätze, die nicht als Fuge angelegt sind. Es sind dies die Sätze, die Strawinsky besonders angesprochen haben.

So eröffnet die zweite Sonate, um ein Beispiel zu nennen, mit einem singenden, pulsierenden Allegro-Thema, das wie der Part einer lebensprühenden Buffo-Figur den Hörer ganz unmittelbar anspricht und bewegt. Die Melodik dieser Sätze ist liedhaft, ornamentfreudig, ausdrucksvoll redend, manchmal gar überschwenglich, die Rhythmik ist bestimmt durch häufige Synkopenbildungen, die Bewegung pulsierend und kontrastreich. Die ausdrucksstarken, klangsinnlichen langsamen Mittelsätze sind entweder einem galant-homophonen oder barock-polyphonen Stil verpflichtet. Etwas aus dem Geist des Brandenburgischen Konzerts Nr. 6 Johann Sebastian Bachs entlehnt dabei der zweite Satz der sechsten Triosonate. Die fälschliehe Zuordnung der Triosonaten zu Pergolesi trifft - ungeachtet der stilistischen Unterschiede - genau den Kern der Musik. Bei Pergolesi denkt man an das frühverstorbene Genie und an besonders edle Einfälle und gelungene Themen, weniger an die kompositorische Ausarbeitung und Weiterspinnung. Eben dies kennzeichnet auch die Musik Gallos: Der Reiz an den Triosonaten liegt in erster linie in den ungemein lebendigen, ganz unmittelbar ansprechenden Themen; handwerkliche Mängel werden durch den Reichtum an melodischen Ideen mehr als genügend ausgeglichen.

Quelle: Franz Blaschko, im Booklet

Franceso Guardi: Der Doge auf der Bucentaurus vor San Nicoló del Lido am Himmelfahrtstag.
1766-70. Öl auf Leinwand, 67 x 100 cm, Musée du Louvre, Paris

TRACKLIST

Domenico Gallo (18th century)
12 Sonatas for 2 Violins and Basso continuo
Originally attributed to Pergolesi

[1] Sonata No 1 in G major 5'38
Moderato - Andantino - Presto

[2] Sonata No 2 in B flat major 6'10
Presto - Adagio - Presto

[3] Sonata No 3 in C minor 5'16
Allegro - Andante - Allegro

[4] Sonata No 4 in G major 6'20
Moderato - Adagio - Allegro

[5] Sonata No 5 in C major 6'17
Allegro - Larghetto - Allegro

[6] Sonata No 6 in D major 5'14
Presto - Andante non tanto - Allegro

[7] Sonata No 7 in G minor 6'29
Non presto - Andante - Allegro

[8] Sonata No 8 in E flat major 5'57
Allegro ma non tanto - Andantino - Allegro

[9] Sonata No 9 in A major 5'10
Presto - Larghetto - Allegro

[10] Sonata No 10 in F major 4'57
Moderato - Andantino - Tempo di Minueto

[11] Sonata No 11 in D minor 4'58
Comodo - Largo - Allegro

[12] Sonata No 12 in E major 5'09
Allegro - Adagio - Presto

T.T.: 68'50

Parnassi musici (on period instruments)

Margaret MacDuffie, Violin
Matthias Fischer, Violin
Stephan Schrader, Violoncello
Martin Lutz, Harpsichord

Recording: February 22 & 23 & June 28 & 30, 1999, Hans-Rosbaud-Studio, SWR Baden-Baden
Recording Supervisor and Digital Editing: Dorothee Schabert
Recording Engineer: Klaus-Dieter Hesse
Executive Producers: Lotte Thaler / Burkhard Schmilgun

Cover Painting: Francesco Guardi: »Der Doge auf der Bucentaurus vor San Nicoló del Lido
am Himmelfahrtstage, Paris, Musée du Louvre«

(P) 2000

Der Preis der Tugend


Eine Danksagung

Blick in die Capella Sansevero, Neapel
»Die Lust der Kreatur ist gemenget mit Bitterkeit« - die melancholische Weisheit des Meister Eckehart bewährt sich auch bei diesem, für mich doch so schönen Ereignis: Die große Freude, welche Sie mir mit der Verleihung des Österreichischen Staatspreises für Kulturpublizistik 2000 bereiten, ist durchaus getrübt von dem Gedanken an die Verpflichtung, die Sie mir dadurch auferlegen, und von dem Zweifel an meinen Fähigkeiten, den damit verbundenen Erwartungen in Zukunft gerecht werden zu können. Denn selbstverständlich ist diese Ehrung eine Verpflichtung, wäre sie es nicht, so markierte sie einen Abschluß und wäre als solcher ein durchaus trauriger Akt: Man würde anerkannt als jener, der man gewesen ist, und hörte auf zu sein, der man werden will.

Jede Anerkennung legt uns fest auf eine Geschichte, sie ist ein definitorischer Akt, doch ist sie zugleich auch ein Appell, diese Geschichte fortzuführen. Überschreiten wir sie, so werden wir, indem wir uns selber treu bleiben, notwendig anderen untreu und laufen Gefahr, jene zu enttäuschen, die uns ihre Anerkennung zuteil werden ließen. Jeder, der sich öffentlich zur res publica äußert, weiß um diese Aporie, aber niemand hat sie klarer zum Ausdruck gebracht als Jean-Paul Sartre, als er in den Wörtern die Sätze schrieb: »Ich konnte nicht zulassen, daß man das Sein von außen empfängt ... Wieso hätte mich die Vergangenheit bereichern sollen? Sie hatte mich nicht geschaffen ... Ich wurde ein Verräter und bin es geblieben. Es nützt nichts, daß ich mich in meine Unternehmungen stürze, ohne Vorbehalt an die Arbeit verliere, an den Zorn, an die Freundschaft: einen Augenblick später werde ich mich verleugnen, ich weiß es, ich will es und mitten in der Leidenschaft verrate ich mich bereits durch ein heiteres Vorempfinden meiner künftigen Verräterei.«

Sartre war konsequent genug, aus Überlegungen dieser Art jede Ehrung, die ihn verpflichtet hätte, abzulehnen, er besaß eine Konsequenz, die ich nicht habe. Aber ist die Konsequenz nicht selber der Widerspruch, wenn man den Verrat zum schöpferischen Prinzip erklärt? Julien Bendas Verrat der Intellektuellen ist in sofern ein tautologischer Titel und als Anklage verfehlt, als jeder Intellektuelle, wenn er ein Denkender ist und nicht nur das Sprachrohr einer vorgefertigten Ideologie, ein potentieller Verräter ist: Er hat Überzeugungen immer nur auf Abruf, und kein Mensch weiß, was ihm morgen einfallen wird, am allerwenigsten er selber. Überzeugungen sind abgestorbene Gedanken. Jeder, der Überzeugungen hat und an ihnen festhält, ist ein verläßlicher Mensch und man kann auf ihn bauen; deshalb eignet er sich bestens zum Politiker, zum Geschäftsmann, zum Partner, zum Freund. Als Träger eines »ehrlichen Bewußtseins« (Hegel) kann man ihm vertrauen, er ist ein wertvolles Mitglied der menschlichen Gesellschaft.

Eine andere Perspektive in die Capella Sansevero
Jene aber, für die das Denken eine Leidenschaft ist, sind unverläßliche Figuren, denn sie haben, wenn überhaupt, Überzeugungen nur auf Widerruf, als passageres Phänomen des Denkens, wenn dieses vorübergehend zur Ruhe kommt. Deshalb ist Denken grundsätzlich unsolidarisch - mit jeder neuen Einsicht verliert man einen alten Freund. Und umgekehrt korrumpiert nichts so sehr wie Anhängerschaft, der gegenüber man sich verpflichtet weiß: allein aus diesem Grund sind alle Propheten falsche. »Als Denkender bin ich asozial im gleichen Sinn, in dem ich Atheist bin«, läßt der junge André Malraux eine seiner Romanfiguren sagen, und der alte Karl Marx brüskierte seine biederen Nachbeter mit der Bemerkung, er selber sein kein Marxist; und er fügte hinzu: »Einen Menschen, der sein Denken nach den gewünschten Resultaten richtet, nenne ich einen Lumpen.«

Es geht hier, notabene, nicht um eine Lizenz zum Opportunismus, sondern ganz im Gegenteil darum, sich dem moralischen Druck von Parteiungen zu entziehen, insbesondere derer, denen man selbst aufgrund seiner Geschichte zugerechnet wird. Wenn Aufklärung ein offener Prozeß sein soll, dann darf sie sich vor ihren eigenen Resultaten nicht fürchten. »Es ist sehr was Ungereimtes, von der Vernunft Aufklärung zu erwarten und ihr doch vorher vorzuschreiben, auf welche Seite sie notwendig ausfallen müsse«, sagt Immanuel Kant. Das aber steht im Widerspruch zu jeder Form des stabilen Engagements, und sei dieses noch so »kritisch«. Nicht der positive, banale Konformismus ist die Falle des Intellektuellen, sondern dessen einfache Negation, die nur ein Konformismus auf höherer Ebene ist, ein »Nonkonformitätskonformismus«, wie der Skeptiker Odo Marquard dieses unter Minderheiten verbreitete Phänomen genannt hat; die Nachgiebigkeit gegenüber dem Druck der ingroup, nicht das Schwimmen mit dem Mainstream: Die Kleiderordnung unter Künstlern und Intellektuellen ist nicht weniger streng als in Vorstandsetagen, und das gilt für Gedanken nicht minder.

Giuseppe Sanmartino: Der Verhüllte Christus (Cristo velato),
Capella Sansevero, Neapel
Wenn, wie ich meine, die Modernität einer Denkweise darin besteht, daß ihr widersprechende Thesen nicht häresiefähig sind, dann stehen wir in den sogenannten »Geisteswissenschaften« mit einem Fuß noch im Mittelalter. »Es kömmt darauf an«, sich dem zu widersetzen, nicht aus Lust an der Provokation, sondern aus Selbstachtung. Die Kosten dafür sind manchmal recht hoch, vor allem im persönlichen Bereich, aber auch der Gewinn ist beachtlich: Die Exkommunikation ist die Taufe des freien Geistes. Ich nehme für mich in Anspruch, diese Haltung mir immer bewahrt zu haben, in den verschiedensten Lagen und Positionen, und ich möchte gerne annehmen, daß sie es ist, die Sie zur Verleihung dieser hohen Auszeichnung veranlaßt hat. Es wäre eine Ermutigung für mich und für andere. Nur dann erfüllte die Ehrung mich nicht mit Scham, wenn ich daran denke, wer meine Vorgänger sind.

Mein Freund und nachsichtiger Laudator Konrad Paul Liessmann hat auf die Paradoxie schon hingewiesen, welche die Verleihung dieses Preises in Ansehung der Texte hat, die sie motiviert haben. Mit »Kultur« im Sinne des Betriebs, der mit ihr gemacht wird und aus dem sie heute wesentlich besteht, haben sie kaum etwas im Sinn. Im Gegenteil: Sie machen den Betrieb zwar gelegentlich zu ihrem Thema, haben aber ansonsten immer den Ehrgeiz, sich ihm zu entziehen. Sie sind keine »Beiträge« zu was immer, sie suchen weder ein großes Publikum noch Anhängerschaft oder Beifall. Ich bin - und das ist keine Pose - immer wieder überrascht, wenn ich auf jemanden treffe, der sie gelesen hat. Das ist zwar im ersten Moment fast immer erfreulich, und natürlich freut mich, wie jeden Menschen, Zustimmung mehr als Ablehnung, egal woher sie kommt, im Grunde aber werden mir beide Reaktionsweisen sehr rasch unangenehm - ganz einfach deshalb, weil sie Arbeit machen. Vermutlich geht es uns als Autoren allen so: Die Aufmerksamkeit, die wir erregen und manchmal auch erregen wollen, wird uns, kaum ist sie erteilt, lästig; und doch schmeichelt sie unserer Eitelkeit. Wollen wir unsere Integrität bewahren, so müssen wir sie bekämpfen, sonst werden wir zu Sklaven unseres Publikums, und sei dieses auch nur eine schmale akademische Schicht. Was wir wirklich suchen, und auch suchen sollen, ist Anerkennung, und zwar Anerkennung derer, die wir selber anerkennen. Daß mir diese heute zuteil geworden ist, erfüllt mich mit Glück und mit Stolz.

Francesco Queirolo: Allegorie der Enttäuschung (Disinganno),
Capella Sansevero, Neapel
Tatsächlich sind die Texte, für die geehrt zu werden ich heute die Freude habe, sehr persönliche Orientierungsversuche in einer wie immer intrikaten Welt, monologisierende Gedankenexperimente ohne Rücksicht auf den Leser, fast nie einem Thema, immer einem Problem gewidmet; vielleicht ist das eine Folge meiner naturwissenschaftlichen Erziehung. Dazu gehört auch die äußerste Verknappung der Form - »entia non sunt multiplicanda sine necessitate«: Das Ockhamsche Ökonomieprinzip des Denkens ist auch eine Stilfrage.

Wenn, wie man gesagt hat, das Moralische das ist, was sich von selbst versteht, so bestehen meine Versuche darin, das Nicht-Selbstverständliche zu denken, die bloße Meinung, die Doxa, in der wir alle gefangen sind, zu durchbrechen und ihre Widersprüche zu zeigen. Deshalb werden sie oft als amoralisch qualifiziert. Ich selbst würde sie gerne »Dekonstruktionen des Moralischen« nennen, verbände man mit dem Wort »Dekonstruktion« nicht die Vorstellung von schlechtem Stil. Früher, als man noch dachte, daß hinter der Meinung, von ihr verborgen, eine große Wahrheit stünde, die man aufdecken könne (was selbst nur eine Meinung war), nannte man so ein Unternehmen »Ideologiekritik«.

Noch früher freilich, vom 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert, trug es den schönen Namen »Moralistik«, die mit so großen Gestalten verbunden war wie Montaigne, Gracian, Galiani, La Bruyere, Lichtenberg. Es ist bemerkenswert, daß der Name »Moralist«, der einst diesen feinen Kennern des menschlichen Herzens, diesen scharfsinnigen und unbestechlichen Botanikern der Moral, vorbehalten war, heute jene abstoßenden Figuren bezeichnet, welche die Moral nicht studieren, sondern predigen, jene selbstgerechten Wegweiser der Menschen, welche die vakant gewordenen Stellen des Klerus besetzen und nur selten ein Gewissen haben, es aber immer selber sind. Mit schöner Ironie nennt man sie heute auch »Gutmenschen«. In der kürzlich abgelaufenen Moderne nannte man sie »Intellektuelle« - in Wahrheit schlecht säkularisierte Pfaffen und Propheten in der Toga des Kritikers.

Es ist interessant, daß die Figur des Intellektuellen im gleichen historischen Moment auftaucht, in dem der ehrwürdige Begriff der »Tugend« außer Gebrauch kommt: um die Mitte des 19. Jahrhunderts - Paul Valéry hat ihm bei einer ähnlichen Gelegenheit wie dieser, nämlich anläßlich der Verleihung eines »Tugendpreises«, einen schönen Nachruf gewidmet. Zur gleichen Zeit nimmt auch die Bedeutung des Wortes »Ideologie« ihre moderne Gestalt an, ausgehend vom durchaus skeptischen Ideologiebegriff der materialistischen Spätaufklärung über das Marxsche Verständnis als notwendig falsches Bewußtsein bis zur Bezeichnung programmatischer Ideensysteme von Parteien und Verbänden. Heute wird es praktisch synonym verwendet mit Propaganda und Lüge.

Antonio Corradini: Die Keuschheit (Pudicizia),
Capella Sansevero, Neapel
Die Krise des Ideologiebegriffs wie die der Figur des Intellektuellen zeigt eine Zeitenwende an. Das hat nichts mit einem »Verrat der Intellektuellen« zu tun, von dem schon die Rede war, sondern ihr liegt ein objektiver Prozeß zugrunde: Der Verbrauch aller absoluten Wahrheiten durch ihre praktische Verkehrung ins Gegenteil. Die großen Träume, die Träume von Intellektuellen waren, sind ausgeträumt, Träume, die in der einen oder anderen Form alle Träume vom Ende der Geschichte waren, als ob nicht vorher jeder selber stürbe. »Die Menschen leiden manchmal mit Würde, aber sie hoffen selten mit Intelligenz« (Nicolas Gómez Davila); das liegt schon an der Begrenztheit des Daseins. Was der Philosophie noch bleibt, ist die harte Arbeit des Desengaño.

Wir wissen heute, oder könnten es wissen: Alle großen Verbrechen entspringen großen Idealen, nicht dem bösen Willen, die Täter verfolgen aus ihrer Binnensicht immer »das Gute«, und sie sind um Objektivierungen nie verlegen, hieße es nun Rasse, Klasse oder Nation; heute trägt es den Namen »Menschheit«. Die fürchterlichsten Massaker der Geschichte wurden niemals von Skeptikern oder Nihilisten verübt, sondern von Gläubigen und Utopisten, im Namen von mächtigen Idealen. Deren Inhalte und Formen wechseln, sie hatten im 17. Jahrhundert die Gestalt von Religionen, im 20. Jahrhundert die politischer Ideologien. Die kommenden Kriege wird man im Namen der Menschenrechte führen, und zwar auf allen Seiten; man muß diese nur je nach Lage der Dinge entsprechend interpretieren. Was sich aber durchhält über die Zeiten, ist die Figur des Sykophanten, des gläubigen Anzeigers, Aufzeigers und Verfolgers im Namen der Wahrheit als einer verpflichtenden Idee.

Wenn die Geschichte, und namentlich die des 20. Jahrhunderts, etwas gelehrt hat, dann dies: Daß man jedem Menschen a priori alles zutrauen muß, das Höchste und das Niedrigste, das Erhabenste und das Gemeinste - daß es aber klüger ist, mit dem Schlimmsten zu rechnen; man braucht ihm nur das entsprechende Ideal zu liefern und den Applaus seiner Gruppe. Bei diesem Kalkül darf man freilich - und das ist entscheidend! - sich selbst nicht ausnehmen. Das freilich ist am schwersten, weil es unserer Eigenliebe widerspricht. Jenen, die ihrer sicher sind, den politisch korrekten »Gutmenschen«, den »nach-dem-Rechten-Sehern«, den moralisch Erhabenen und Spätverurteilern, den Erinnerungsathleten ohne Geschichte, den Helden ohne Risiko, mit einem Wort, den Sykophanten von heute, sei zur Selbstaufklärung der wunderbare Roman Lord Jim von Joseph Conrad zur Lektüre empfohlen: Es genügt manchmal die Schwäche eines Augenblickes, um fortan zu jenen zu gehören, die man soeben noch selbst verdammte ...

Rudolf Burger (* 1938)
Was sich nach diesen Betrachtungen empfiehlt, ist die leise Ethik der Skepsis, die eine fordernde Moral nicht kennt: Das Gute ist auch für den Pyrrhoneer das Gute, aber der Glaube zu wissen, was es sei, ist ihm das Böse. Deshalb sucht er zu jeder These die Antithese, also die »Gewaltenteilung im Absoluten« (Marquard). Wenn aber eine Idee, wie es so schön heißt, »die Massen ergreift«, dann ist es Zeit für ihn zu gehen und die Tür hinter sich zu schließen.

Alles Unglück der Welt kommt daher, sagt Pascal, daß die Menschen nicht ruhig in einem Zimmer sitzen können, und jener Mann, der das 20. Jahrhundert in all seinen Abgründen durchlebt hat wie kein anderer, nämlich Ernst Jünger, der in den Wirbeln der Zeit äußersten Aktionismus mit stillster Kontemplation verband, aber auch in extremsten Lagen nie ein Sykophant gewesen ist, hat aus den Erfahrungen seines Lebens die Maxime formuliert: »Man muß den Typus des Verfolgers im Auge behalten, nicht die Art der Parteiungen«. Sich vor ihnen zu schützen, ist eine Empfehlung der Klugheit; nicht zu ihnen zu gehören, ein Gebot der Tugend - jenseits aller Moral.

Quelle: Rudolf Burger: Der Preis der Tugend. In: Derselbe: Ptolemäische Vermutungen. Aufzeichnungen über die Bahn der Sitten, Lüneburg, Zu Klampen, 2001, ISBN 3-934920-06-3. Seite 9 bis 15. Erschien zuerst im »Wespennest« Nr. 123.

RUDOLF BURGER (geboren 1938) war Professor für Philosophe an der Universtität für angewandte Kunst in Wien, und von 1995 bis 1999 deren Rektor. Schon vor seiner Emeritierung 2007 war er ein »unbequemer Intellektueller«.

Burgers Dankrede habe ich mit Abbildungen aus der Cappella Sansevero unterlegt, einer kleinen, aber berühmten Barockkirche in der Altstadt von Neapel. Sie wurde als Grabstätte der Familie di Sangrio errichtet. Deren bekanntester Angehöriger war der Erfinder, Alchemist und Freimaurer Raimondo di Sangrio. Besondere Anziehungspunkte der Kirche sind der Verhüllte Christus (Cristo velato) von Giuseppe Sanmartino (1720–1793), Die Enttäuschung (Disinganno) von Francesco Queirolo und Die Keuschheit (Pudicizia) von Antonio Corradini.


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Lebensrad: Ernste Dichterworte und Bilder von Hieronymus Bosch. Als Kontrast zu Georg Philipp Telemanns »Quatuors Parisiens«.


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