Les Messieurs Forqueray: Pièces de viole de gambe mises en pièces de clavecin (1747)

Die Geschichte der Musikerfamilie Forqueray ist komplex. Im Mittelpunkt steht der Gambenvirtuose Antoine Forqueray (1671-1745). (Das häufig zu lesende Geburtsdatum "September 1672" ist nicht gesichert, verschiedene Quellen mit Jahresangaben widersprechen sich). Die Familie stammte wie jene der Couperins ursprünglich aus Chaumes-en-Brie, etwa 50 km südöstlich von Paris. Antoine muss schon im Kindesalter grosse musikalische Begabung gezeigt haben und soll als Knabe von fünf oder sieben Jahren vor dem König den basse de violon gespielt haben, worauf er für den Unterricht auf der viole de gambe empfohlen wurde. Er soll bald alle seine Lehrer auf diesem Instrument übertroffen haben und erhielt 1689, also mit siebzehn oder achtzehn Jahren, die Stelle eines musicien ordinaire de la chambre du roy auf diesem Instrument. Nach Le Blanc soll er dem König während der Mahlzeiten préludes en goût italien vorgespielt haben. Nach mehreren Quellen soll er ein hochkarätiger Virtuose auf dem Niveau von Marin Marais gewesen sein, wobei dessen Spiel als das eines Engels, Forquerays als das eines Teufels beschrieben wurde. Er muss die technischen Möglichkeiten weit über die Errungenschaften Marais' erweitert haben, und soll mit François Couperin und Robert de Visée am Hof musiziert haben.

1697 heiratete er eine Henriette-Angélique Houssu, am 10. April 1699 wurde sein Sohn Jean-Baptiste-Antoine geboren. Seine Frau stammte ebenfalls aus einer musikalischen Familie von Pfarrorganisten, was trotz gemeinsamen Übens und Auftretens - sie begleitete ihn auf dem Cembalo - wegen unterschiedlicher Lebensstile auf die Dauer grosse Konflikte verursacht haben muss. Nach mehreren Berichten hat Antoine seine Frau mißhandelt; die beiden trennten sich 1710 und verliessen das Hôtel de Soissons in Paris, wo sie seit der Hochzeit gewohnt hatten. Ende der 1720er Jahre zog sich Antoine nach Mantes zurück, erhielt ab 1733 ein Salär als Hofmusiker, aber ohne Verpflichtung zu Auftritten am Hof, und wurde ab 1736 als vétéran, also im Ruhestand, geführt. Gedruckt wurde zu Lebzeiten keine seiner angeblich dreihundert Kompositionen für die Gambe; die wenigen einzelnen in Periodika veröffentlichten Stücke werden inzwischen seinem Neffen Michel Forqueray zugeschrieben, da sie sich im Stil erheblich von denen unterscheiden, die sein Sohn postum herausgab.

Antoine Forqueray (1671-1745)
[Quelle]
Jean-Baptiste-Antoine Forqueray (1699-1782) muss die gleiche grosse Begabung von seinem Vater geerbt haben, denn er wird als ebenso grosser Gambenvirtouse gerühmt. Dies wird als Motiv des Vaters für die schlechte Behandlung seines Sohnes und die gerichtlichen Schritte ihm gegenüber gedeutet - er soll ihn als bedrohliche Konkurrenz empfunden haben. 1710 liess er seinen Sohn ins Gefängnis von Bicêtre einweisen, 1725 versuchte er die permanente Verbannung aus Frankreich zu erwirken, was seine Schüler und Gönner mit Hinweis auf den Charakter des Vaters aber verhindern konnten. Eine Stelle als Hofmusiker konnte er aber erst nach dem Tod seines Vaters 1742 erhalten. Jean-Baptiste-Antoine war zweimal verheiratet, zuerst ab 1732 mit Jeanne Nolson; nach ihrem Tod seit 1741 mit der hervoragenden Cembalistin Marie-Rose Dubois (1717-1782?).

1747 gab Jean-Baptiste-Antoine einen Druck mit neunundzwanzig Stücken für Viola da Gambe und Bass aus dem Werk seines Vaters heraus, der Bass soll nach mehreren Urteilen von ihm stammen; drei weitere Stücke aus seiner eigenen Feder fügte er ein. Parallel liess er eine Bearbeitung für Cembalo solo drucken, die insofern ungewöhnlich ist, als er die tiefe - an der Gambe orientierte - Lage der Stücke beibehielt, was auf den wunderbaren Bassregistern der französischen Cembali natürlich fantastisch klingt. Auch ist der Stil so idiomatisch cembalistisch, dass man zumindest eine Mitarbeit, wenn nicht sogar eine Autorschaft von Marie-Rose Dubois an diesen Transkriptionen vermutet. Von den übrigen der angeblich dreihundert Pièces de viole von Antoine Forqueray père fehlt nach wie vor jede Spur, auch von Jean-Baptiste Antoine Forqueray konnte bisher sonst nichts identifiziert werden.

Jean-Baptiste-Antoine Forqueray (1699-1782)
 1737, Gemälde von Jean-Martial Frédou [Quelle]
Der Anteil des Sohnes an diesen Stücken, gleich ob man die Gamben- oder die Cembalofassung betrachtet, ist schwer zu bestimmen, aber auf jeden Fall sind sie hochoriginell und von hoher musikalischer Qualität. Jean-Baptiste-Antoine war ein gesuchter Gambenlehrer, unterrichtete z.B. die Tochter von Ludwig XV., Henriette-Anne, und korrespondierte sogar mit Friedrich Wilhelm von Preussen über Gambentechnik. Erst nach dem Tod seines Förderers, des Prinzen Conti, im Jahr 1776 zog er sich zurück und starb 1782; das genaue Sterbejahr seiner Frau ist unbekannt.

Michel Forqueray (1681-1757), ein Neffe von Antoine, wurde ebenfalls in Chaumes-en-Brie geboren und kam um 1700 nach Paris. Er arbeitete als Organist an zwei Kirchen bis zu seinem Tode 1757 und wurde von D'Aquin für sein subtiles Spiel gelobt; in seinem Nachlass befand sich ein auf 800 Livres taxiertes Ruckers-Cembalo. Drei Stücke werden ihm inzwischen zugeschrieben: Prélude (Cembalo), Musette "N'espere plus, jeune Lisette" (Gambe und BC), Le Papillon et La Rose (Singstimme und BC).

Sein Neffe Nicolas-Gilles Forqueray (1703-1761), auch aus Chaumes-en-Brie gebürtig, kam 1720 nach Paris und hatte bald mehrere Organistenstellen inne, übernahm u.a. die seines Onkels nach dessen Tod und arbeitete am Hof Ludwig XV. Kompositionen konnten ihm bisher nicht zugeordnet werden.

Quelle: Aficionado54 (Aquae Mattiacorum), am 02.04.2015 im “Prospero – Forum für Alte Musik


TRACKLIST


Mr FORQUERAY

Pièces de viole de gambe composées par Mr Forqueray le Père
mises en pièces de clavecin par Mr Forqueray le Fils
1747

Le Père: Antoine Forqueray (1672-1745)
Le Fils: Jean-Baptiste-Antoine Forqueray (1699-1782)

Disque 1 79:08

5ème suite en do mineur - c minor - c moll
01. La Bellmont 5:41
02. La Portugaise 4:19
03. La Léon - Sarabande 5:18
04. La Boisson 3:51
05. La Montigni 3:42
06. La Sylva 8:44
07. Jupiter 3:53

2ème suite en sol majeur - G major - G Dur
08. La Bouron 4:58
09. La Mandoline 4:52
10. La du Breuil 6:41
11. La Leclair 3:17
12. La Buisson - Chaconne 5:50

1ère suite en ré mineur - d minor - d moll
13. La Laborde - Allemande 9:12
14. La Forqueray 4:23
15. La Cottin 4:26

Disque 2 79:16

1ère suite en ré mineur - d minor - d moll
01. La Bellmont 2:52
02. La Portugaise 3:58
03. La Couperin 4:23

3ème suite en ré majeur
04. La Ferrand 3:51
05. La Régente 5:57
06. La Tronchin 5:07
07. *La Angrave 3:06
08. *La du Vaucel 5:45
09. La Eynaud 3:55
10. *La Morangis ou La Plissay 8:23

4ème suite en sol mineur
11. La Marella 3:42
12. La Clément 7:25
13. La d'Aubonne - Sarabande 6:07
14. La Bournonville 2:39
15. La Sainscy 3:29
16. La Carillon de Passy 3:25
17. La Latour 4:44

*La Angrave, La du Vaucel, La Marangis ou la Plissay
wurden von Jean-Baptiste-Antoine Forqueray komponiert.

Blandine Rannou, Clavecin

Enregistré du 19 au 23 et 26 au 30 novembre 2007
au Studio Sequenza - Montreuil
Prise de son: Franck Jaffrès et Alban Moraud
Direction Artistique: Franck Jaffrès
Montage: Alban Moraud

Die romantische Entgrenzung


Wilhelm von Kaulbach: Bildnis des Malers Heinrich
Heinlein als Ritter Schellenberg.
1840, Öl auf Leinwand, 45 x 39 cm, Privatbesitz
Zusammenfassungen bedeuten im Literarischen wie im Staatlichen immer zum mindesten Benachteiligungen für den Einzelnen. Wenn man aber überhaupt eine Gruppierung ohne allzustarkes Einzelunrecht vornehmen kann, so sicherlich gegenüber dem europäischen Literaturverlauf seit dem letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts. Denn ungemein deutlich hebt sich eine dreitaktige Bewegung heraus: der Anstieg einer romantischen Welle; ein Wellental, das man Realismus zu nennen gewohnt ist - diese Bezeichnung freilich birgt fast noch größere Unklarheiten als der hier zu behandelnde Begriff des Romantischen - und eine neue Woge der Romantik, die seit den neunziger Jahren ansteigend noch heute [1922] als Neoromantik, Expressionismus, Futurismus usw. mächtig einherflutet. […]

Nun sind in letzter Zeit zwei sehr tiefgreifende Versuche unternommen worden, das Wesen des Romantischen in seinem eigentlichen Kern zu erfassen. Dabei könnte es fast erheiternd wirken, wie die beiden mit gleich schwerem philosophischem Rüstzeug arbeitenden Gelehrten zu genau entgegengesetzten Ergebnissen kommen. Schuld daran ist ein in beiden Fällen vorhandenes Übermaß der inneren Anteilnahme, der Parteiergreifung. Der eine nämlich, Max Deutschbein, ganz Ästhetiker und Literarhistoriker, sieht in seiner Schrift «Das Wesen des Romantischen» in der Romantik das Schönste und Beglückendste. Der andere, Carl Schmidt-Dorotic, schreibt sein Buch «Politische Romantik» ganz als Jurist und Politiker und bringt der romantischen Geisteshaltung höhnisch bittere Feindschaft entgegen. […]

Deutschbeins Studie beginnt mit der enthusiastischen und gefährlich weitmaschigen Erklärung: «Die Synthese ist das Grundprinzip der Romantik; sie ist ihr köstlichstes Gut und ihr innerstes Geheimnis». Deutschbein bemüht sich dann aber aufs ernstlichste um Klarheit, mit dem Erfolg allerdings, daß er sie für den Begriff der Synthese, doch nicht für den der Romantik erreicht. Er geht von zwei Arten der Phantasie aus, die er mit den Dichtern und Ästhetikern der Seeschule Fancy und Imagination nennt und auf die Kantisch unterschiedenen Gebiete des Verstandes und der Vernunft bezieht. Fancy bleibt im Bezirk des Sinnlichen, des Verstandes, Fancy verknüpft spielerisch, lose, nach Laune, sie läßt die verknüpften Dinge für sich bestehen, ist objektiv eingestellt, gibt eine Synthese des Mannigfaltigen. Imagination dagegen arbeitet nach innerer Notwendigkeit, geht über das sinnliche Gebiet des Verstandes hinaus und «klopft, ähnlich wie die Vernunft, an das Reich des Unendlichen, Unbedingten und Irrationalen». Und ihre eigentliche Aufgabe besteht eben darin, all dieses Übersinnliche und Überendliche «mit der endlichen rationalen Welt zu verknüpfen». Eine solche Synthese ist nicht mehr die des Mannigfaltigen, sondern die der Gegensätze. Imagination bringt sie zustande, indem sie von der objektiven Stellungnahme der Fancy abweicht und subjektiv-objektiv gerichtet ist, d. h.: indem sie ihr Ich ganz in das Nicht-Ich eindringen und eine Vermählung mit ihm, doch ohne Selbstaufgabe, vollziehen läßt. […] Endlich wird noch betont, was Imagination von der verwandten Vernunft unterscheidet: Imagination zergliedert nicht, sondern sieht intuitiv den Zusammenhang lebendigen Seins, übt Wesensschau ... Imagination aber ist die Phantasie des Romantikers, und die von ihr hervorgebrachte Synthese der Gegensätze ist seine eigentliche Gipfelleistung.

Friedrich Overbeck: Bildnis des Malers Franz Pforr.
 Um 1810, Öl auf Leinwand, 62 x 47 cm,
Alte Nationalgalerie, Berlin.
Dem ist entgegenzuhalten, daß danach der Unterschied zwischen Fancy und Imagination kein anderer ist, als der zwischen geringer, spielerischer, teilweiser und großer, ernster und umfassender Phantasie. Imagination ist überall am Werk, wo wahrhaft Großes geschaffen wird. Sie waltet in der Ilias und in der Göttlichen Komödie, sie wirkt in allen Goetheschen Dichtungen und nicht nur in den romantisierenden, ja sie ist in einem so völlig klassischen Drama wie in Corneilles Horace zu verspüren. Punkt um Punkt zu verspüren. […] Aus diesem Einwand gegen die Beschränkung der Imagination auf den romantischen Künstler allein ergibt sich sofort der gleiche Einwand gegen die Synthese der Gegensätze als ausschließliches romantisches Eigentum. Auch sie ist der beste Besitz des bedeutenden Künstlers schlechthin. Der Romantiker, sagt Deutschbein, sieht im Endlichen entweder eine Verkörperung des Unendlichen, des Göttlichen, oder eine Stufe auf dem Wege zum Unendlichen, zu Gott. Deutschbein kommt hier dem Wesen des Romantischen sehr nahe, indem er erklärt, daß der Romantiker nicht das feste Seiende sondern das Bewegte, das Werdende zeichne: Aber diese Erklärung wird nicht ins Zentrum gerückt, dort steht vielmehr der überwundene Gegensatz des Endlichen zum Unendlichen. Es gibt aber keine große Dichtung, oder anders ausgedrückt: man kann keine Dichtung eine vollkommene nennen, in der solche Synthese nicht vollzogen würde. Es geht hier ums Dichten überhaupt und nicht ums romantische Dichten.

Eine zweite Synthese der Gegensätze, die romantische Eigenart und Errungenschaft sei, sieht Deutschbein in der Auffassung des Individuellen. Indem jedes Individuum als ein Stück Unendlichkeit angesehen werde, erhalte es seinen Wert, werde erhöht, in den Kreis des Allgemeinen gestellt und doch nicht dem Allgemeinen geopfert wie in der typisierenden Behandlung der Klassik. Da aber Deutschbein doch, auf Schelling und Wilhelm von Humboldt gestützt, «den Realismus einer krassen Porträtkunst» für die Romantiker ablehnt, sie vielmehr nur das Charakteristische und Dauernde des Individuums, also sozusagen den individuellen Typus zeichnen läßt, zeigt er selber, wie unendlich viele Möglichkeiten zwischen dem Typischen und dem Individuellen liegen, und wie hier von festen Abgrenzungen keine Rede sein kann. Ich verweise noch einmal auf den verschrieensten Klassiker, auf Corneille. Vergleicht man Horace mit einem Römer Shakespeares, etwa mit Coriolan, so ist er gewiß ein Typus. Sieht man Horace aber für sich an, so wird er fraglos zum individuellen Typus; er ist der Sohn eines bestimmten Landes: Frankreichs, einer bestimmten Epoche: der vor Sonnenaufgang des absoluten Königtums Ludwigs XIV., ja eines ganz bestimmen geistigen Vaters: er denkt, spricht, plädiert unverkennbar wie der Rechtsanwalt Corneille, und er handelt genau so, wie dieser bürgerliche Rechtsanwalt in seinen Träumen, seiner Sehnsucht, seiner eigentlichen Wesenheit handelt. Und vergleicht man Horace mit den Helden einer mittelalterlichen Moralität, mit «Jedermann» etwa oder Jeunesse oder Peuple français, so wird er zum Individuum schlechthin. Und wiederum haben all die unbekannten Dichter dieser Moralitäten Synthesen zwischen ihrem Ich, dem, was sie mit Furcht und Hoffen erfüllte, und dem Allgemeinen geschaffen.

Friedrich Wilhelm von Schadow: Bildnis einer jungen
Römerin (Angelina Magtti). 1818, Öl auf Leinwand,
 94 x 79 cm, Neue Pinakothek, München.
Deutschbein führt das Thema der Synthese um noch zwei Stufen weiter. In den bisher genannten Zusammenschmelzungen sieht er Romantik als Intuition wirksam; er betrachtet danach Romantik als Willen und als Produktivität. Beidemale habe ich den gleichen Einwand zu wiederholen. Romantik als Wille kommt in der tätigen Lebenshaltung des Menschen zum Ausdruck, vor allem in seiner Liebe. Auch hier Synthese der Gegensätze: das Ich gibt sich hin und doch nicht auf, es erkennt sich durch den andern, erfüllt, erhöht sich durch ihn. Und in dem geliebten Einzelwesen wird die Verkörperung des Unendlichen, wird das Göttliche geliebt. Wenn dies die Definition der Liebe in der Romantik sein soll, so weiß ich nicht, was für die Liebe überhaupt übrig bleibt ... Und unter der Romantik als Produktivität versteht Deutschbein im engeren Sinn die Schöpfung des Kunstwerkes. Intuition und Wille arbeiten dabei zusammen. Im künstlerischen Individuum verkörpert sich die Gottheit, der Dichter ist inspiriert, das Bedeutende erfüllt ihn plötzlich ohne sein Zutun als ein Himmelsgeschenk, und indem er es gestaltet, verleiht er dem Geistig-Himmlischen irdischen Körper und vollzieht im Werk die Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, deren Träger seine eigene geniale Persönlichkeit ist. Ich erhebe zum letztenmal die Frage: was bleibt für Dichtung und Dichter schlechthin übrig, wenn dies nur die romantische Dichtung und der romantische Dichter ist? […]

Wie aber Deutschbein durch Enthusiasmus verblendet wird, so trübt sich Schmitts Blick durch Abneigung, und das wird menschlich verständlich, wenn man bedenkt, daß er von der politischen Seite an sein Thema herantritt, und daß die Romantiker in der Politik immer und nur Unheil angerichtet haben, schuldlos freilich Unheil anrichten mußten, denn man kann so wenig und so unmöglich gleichzeitig Romantiker und Politiker sein, als man gleichzeitig stillzustehen und zu laufen vermag. Schmitt geht von der Begriffsverwirrung aus, die auf politischem Gebiete dem Romantischen gegenüber herrscht. Bald hat man im Romantischen ein reaktionäres Prinzip gesehen und bald ein revolutionäres. Ultras der Rechten und der Linken haben sich gegenseitig der Romantik geziehen. Tatsächlich verträgt sie sich nämlich mit jeder scheinhaften und mit keiner wirklichen Stellungnahme. Schmitt sieht das Entscheidende in dem, was er «die okkasionalistische Struktur» der Romantik nennt. Der Okkasionalismus ist der von Geulinx und Malebranche unternommene Versuch, aus dem cartesianischen Dualismus herauszukommen. Descartes hatte Geist und Materie als Entgegengesetztes derart schroff voneinander getrennt, daß nicht mehr einzusehen war, wie eine Beeinflussung des Körpers durch den wesensfremden Geist zustande kommen sollte. Geulinx und Malebranche fanden den Ausweg, Gott als Vermittler anzunehmen. «Die Bewegung in meinen Gliedern (erläutert Schwegler Geulinx' System) erfolgt nicht auf meinen Willen, es ist nur Gottes Wille, daß diese Bewegungen erfolgen, wenn ich will. Bei Gelegenheit meines Willens bewegt Gott meinen Körper, bei Gelegenheit einer Affektion meines Körpers bringt Gott eine Vorstellung in mir hervor, das eine ist nur die gelegentliche Veranlassung des andern (daher der Name Okkasionalismus).»

Friedrich Wilhelm von Schadow: Mignon.
1828, Öl auf Leinwand, 119 x 92 cm,
Museum der bildenden Künste, Leipzig.
Nun sieht Schmitt «die Besonderheit des Okkasionalismus darin, daß er einen Dualismus nicht erklärt, sondern illusorisch macht, indem er in ein umfassendes Drittes ausweicht», indem er «das Interesse einfach vom dualistischen Ausgang in eine allgemeine 'höhere' Einheit» gleiten läßt. «Wenn jeder psychische und physische Vorgang nur ein Tun Gottes ist, so ist die Schwierigkeit, die in der Annahme einer Wechselwirkung von Seele und Leib enthalten ist, nicht aus sich selbst gelöst - sie ist forteskamotiert. Eine Art gedanklicher Feigheit und Spiegelfechterei scheint für Schmitt hier vorzuliegen. Und zugleich eine bequeme Passivität, da ja Gott der allein Handelnde ist. Spectator sum in hac scena, non actor, zitiert er aus Geulinx. Und er findet bei den Romantikern völlig entsprechende Stimmungen, er findet bei Friedrich Schlegel im Anhang zu den Vorlesungen über Logik «Malebranche mit besonderer Sympathie erwähnt und ihn weit über Descartes gestellt». Mit alledem will er fraglos nicht etwa sagen, daß der Okkasionalismus die Quelle der Romantik, oder daß etwa Malebranche von Friedrich Schlegel nachgeahmt worden sei, sondern nur, daß das okkasionalistische Prinzip zugleich auch das romantische sei. Dies «nur» schließt aber bei Schmitt den schwersten Vorwurf ein. Wo Deutschbein enthusiastische Synthese erblickt, da sieht Schmitt - und zwar in genau dem gleichen Vorgang! - eine feige Flucht, einen Mangel an geistigem Verantwortungsgefühl, einen egoistischen Spieltrieb. Für ihn gibt sich das romantische Ich in seinen Grenzen nicht zufrieden, aber es mag sich auch an nichts hingeben. Es will alle Möglichkeiten genießen; eine wählen, hieße sich einengen. Partei ergreifen, tätig sein, wäre Verringerung des Genusses, der persönlichen Freiheit. Man kann sich mit Hilfe seiner okkasionalistischen Struktur mit jeder politischen Richtung befreunden, in jeder durch Geist glänzen, in jeder verantwortungslos sein Ich genießen und im Grunde untätig bleiben. Schmitt kann sich gar nicht genug tun in seiner Feindschaft gegen die Romantik; sie ist ihm «ein widerspruchsvolles und verlogenes Produkt», und den Romantiker kennzeichnen: «Mangel an Konsequenz und moralische Hilflosigkeit gegen jeden neuen Eindruck». […]

Die philologische Betrachtung der Grundbedeutung des Wortes «romantisch» bietet den geeigneten Kristallisationspunkt für die gesuchte Begriffsbestimmung. Küchler ist dem Wort nicht bis auf die Wurzel nachgegangen. Er stellt nur seine späten Sinn-Übertragungen und -Spezialisierungen fest. Er berichtet, daß Watelet 1774 im Essai sur les Jardins den romanesken Charakter einer Landschaft hervorherbt, die nicht klar und regelhaft übersichtlich, sondern dämmernd, geheimnisvoll und beklemmend sei, daß Rousseau solche Landschafte liebte und den Ausdruck romantique gebrauchte, daß Sénancourt in Obermann 1804 im heute üblichen Sinn zwischen romanesque und romantique schied, indem er das zweite zum «höheren Begriff» stempelte. […] Er betont, daß Frau von Stael erst in De l'Allemagne und nicht in früheren Schriften von der romantischen Literaturgattung spricht, weil ihr das Romantische als literarischer Gattungsbegriff erst von den Brüdern Schlegel übermittelt wurde, die ihn auf christlich-mittelalterliche Dichtung und besonders auch auf die Poesie der Provenzalen anwandten. Hierauf aber kommt es an, daß den Brüdern Schlegel, die den Blick auf den romanischen Westen und Süden gerichtet hielten, offenbar die Verwandtschaft der Worte «romantisch» und «romanisch» noch stark im Bewußtsein lebte. Man muß das Romanische als die Wurzel des gesamten Bedeutungskomplexes völlig erfassen. Afrz. romanz « romanice «die Volkssprache im Gegensatz zum Lateinischen», schreibt Meyer-Lübke. Man muß sich dabei vor Augen halten, daß diese Volkssprache sehr lange ein mißachtetes Ding war. Sie war regellos, sie war entartetes Latein, Jargon der ungebildeten Masse; sie galt als ungeeignet und unwürdig, die Trägerin ernster Gedanken zu sein.

Philipp Veit: Germania. 1848, Öl auf Leinwand,
 Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg.
Alles, was der Aufzeichnung wert ist, was verstandesmäßig umgrenzt werden muß, was wahr ist, das legt man in festgefügter, regelhafter Sprache, im Latein nieder. Aber das Volk hat seine groben, undisziplinierten geistigen Bedürfnisse, es glaubt an Fabeln, ergötzt sich an Lügenmärchen, und diese Dinge, die sich nicht in den Grenzen des Verstandes bewegen, erzählt es sich in seiner Sprache, der die Regeln und Umgrenzungen der lateinischen Grammatik fremd sind. Romanice erzählt man also nicht das Wahre und Logische, sondern das Phantastische, das Entgrenzte, das «Romanhafte». Und als eine französische Schriftsprache und Kunstdichtung entstanden und nach prunkvoller Blüte im Welken ist, als ihre regelhaften Umgrenzungen sich auflösen, als aus den Verserzählungen Prosawerke werden, da nennt man diese dreifach unordentlichen Gebilde «Romane» («Schriftwerke in der Volkssprache, namentlich Prosaerzählungen», betont Meyer-Lübke).

Dreifach unordentlich sind sie; denn einmal enthalten sie Unwahrheiten - der mittelalterliche Dichter schämt sich seiner Phantasien, deshalb betont er immer wieder, nichts erfunden zu haben und alles wahrheitsgemäß zu berichten -, sodann sind sie nicht lateinisch abgefaßt, und zum dritten ist nicht einmal ihre Volkssprache in die erreichbar festeste Form, den Vers der Crestien von Troies und Marie de France, gegossen. Ein inhaltlich und formal gleich entgrenztes, ein unverstandesmäßiges Gebilde, das den Tadel des ernsten und gebildeten Mannes herausfordert, ist solch ein Roman. So haftet an dem Wort von allem Anbeginn an und in immer verstärktem Maß etwas Pejoratives, und es ist ohne weiteres erklärlich, wenn Frau von Sévigné und Saint-Simon einen verschrobenen Menschen romanesque nennen. Und wenn sich schließlich in Frankreich nach jener Schlegelschen Übertragung des Wortes auf die Literatur eine romantische Schule bildet, so fühlen ihre jungen und stürmischen Anhänger bewußt oder unbewußt etwas wie Oppositions- und Bohèmeatem im bloßen Klang des Namens Romantique und tragen ihn mit dem Stolz der Gueusen.

Auf den Zustand der Entgrenzung und Fessellosigkeit also kommt es inhaltlich wie formal bei der Grundbedeutung des Wortes an; in Frankreich ist diese Grundbedeutung nie ganz versunken, und die Brüder Schlegel haben ihr unwissentlich doppelte Treue gehalten, da sie nach romanischen Stoffen und über die Grenze früher üblicher Stoffwahl hinaus langten. Ich füge zu diesem philologischen Ergebnis, was an neutralen Feststellungen bei Deutschbein und Schmitt-Dorotic übrig bleibt. Jener zeigt den ewigen Drang zur Synthese der Gegensätze, dieser das ewige Ausweichen vor jeder Bindung und Entscheidung. So nenne ich romantisch den Menschen, der sein Ich ständig entgrenzt, der um sein körperliches, sein bürgerliches, sein fühlendes, sein denkendes Ich keine Grenzen duldet. Der aber zu einer Aufgabe seines Ich, zu einer wirklichen Hingabe niemals kommt, denn das wäre ja eine Unterwerfung, ein Umgrenztsein. Und niemals gelangt er zu einer wirklichen Synthese, denn in jeder muß sich sein Ich Grenzen gefallen lassen. […]

Das romantische Ich ist nur mit sich selber, nur mit seiner Entgrenzung und Erweiterung beschäftigt, es schlingt alle Außenwelt in sich hinein, und die ewige Rastlosigkeit dieses Entgrenzens, das ewige Verlangen nach einer Synthese, die seiner gierigen Subjektivität unmöglich ist - gerade das macht den Romantiker aus. Ob dieser Zustand zu Qual oder Freude, ob er spielerisch oder mit tiefstem Ernst durchlebt wird, ob er zu Feigheit oder Heroismus, Niedertracht oder Güte führt, das hängt von dem jedesmaligen romantischen Individuum ab und hat in der Definition des Romantischen schlechthin nichts zu suchen. Der Zustand des ständigen Ich-Entgrenzens - wohlgemerkt und noch einmal: nicht des Entgrenztseins! - ist das Wesentliche und Entscheidende und ist die Ursache all der vielfältigen und gegensätzlichen Erscheinungsformen, in denen das Romantische zutage tritt. Sie seien hier skizziert, wie sie sich aus dieser Ich-Entgrenzung ergeben.

Julius Schnorr von Carolsfeld: Die Flucht nach Ägypten. 1828,
 Öl auf Leinwand, 120,5 x 114 cm, Museum Kunstpalast, Düsseldorf.
Voranzustellen aber ist ein Dreifaches, das ich nicht zu den wechselnden Erscheinungsformen des Romantischen zähle, sondern zu seinem dauernden eigentlichen Wesen, da es mit Notwendigkeit immerfort zum Entgrenzen des Ichs gehört. Einmal die Auffassung der Welt als eines Organismus; denn wer alles in sein Ich hineinzieht, als Teil seines Ichs auffaßt, der beseelt alles. Zum anderen das, was man die romantische Ironie genannt hat, und was durchaus nicht immer der Witz einer Heineschen Schlußzeile sein muß. Die romantische Ironie ist die Scheren-haltende Parze des Romantikers. Er hat eine Stufe, Umgrenzung, Synthese, Befriedigung (oder wie man es sonst nennen will) erreicht; er darf nicht rasten. Die romantische Ironie läßt ihm die Umgrenzung als Umschnürung erscheinen und durchschneidet sie. Und damit hängt als Drittes zusammen, daß romantische Schöpfung notwendig fragmentarische Schöpfung sein wird. Hiermit meine ich nicht, daß das romantische Kunstwerk immer Bruchstück sein muß, sondern daß es sein Thema nicht nach Art des Klassischen in einem geschlossenen Kreise erschöpft; der Kreis bleibt offen, und wenn alles gesagt ist, wäre noch vieles zu sagen […]

Von den einzelnen und wechselnden Erscheinungsformen des Romantischen liegt die äußerlichste und faßlichste Entgrenzungsart in dem, was ich romantische Geographie nennen möchte. Der Romantiker erweitert sein Ich, indem er sich die Eigenart fremder Gegenden erschließt. Reisen an sich ist zugleich die natürlichste Beschäftigung und die symbolischste Tätigkeit des innerlich Rastlosen, und das «Nur weiter, immer weiter, mein treuer Wanderstab!» könnte das Bundeslied der romantischen Gemeinde genannt werden. Daß man mit Vorliebe ebensogut die heiße Farbigkeit der südlichen Länder und des Orients aufsucht, wie die Nebelschauer des Nordens, ist ohne weiteres verständlich; denn in beiden Richtungen überschreitet man die Grenzen normalen und zivilisierten Mitteleuropäertums.

Eine geistigere Entgrenzung ist die rückwärts in die Zeit führende, die Freude an der Geschichte. Aber so viele Anregungen die Geschichtswissenschaft auch von den Romantikern erhalten hat, so viel historische Dichtungen und Gemälde auch den Romantikern zu danken sind - einen eigentlich historischen Sinn darf man ihnen doch nicht zusprechen. Denn es ist nicht und keineswegs an dem, daß der Romantiker die fremde Individualität, die ihm gegenüberstehende oder die zeitlich entfernte, besser zu achten, genauer zu erfassen und abzumalen weiß als der Nichtromantiker. Es geht ihm immer nur um die Bereicherung des eigenen Ichs. All das Malerische, Seltsame, Kühne, Andersartige fremder Zeiten ist ihm willkommen - aber er behängt schließlich doch nur sein eigenes Ich mit all den fremden Dingen, so wie sich Jungen mit bunten Federn als Indianer herausputzen. Die sachliche Versenkung in die andere Zeit, die Hingabe an die andere Seele fehlt, man schiebt das eigene lebensgierige Ich unter Und wie um die Errungenschaften auf historischem Gebiet, steht es um die auf literarischem. Auch da bereichert man sich an fremden Schätzen. Aber gerecht geworden ist man immer nur dem, worin das eigene Ich zwanglos Erweiterung finden konnte. So wurde Shakespeares Dichtung deutsche Dichtung. Ging aber die Assimilierung nicht zwanglos vonstatten, so wurde mit mehr oder minder Erfolg Gewalt angewandt. Den unromantischen Dante gewann man nicht: sein Werk und seine Gestalt wurden verbogen.

Peter von Cornelius: Joseph gibt sich seinen Brüdern zu erkennen.
1816/17, Fresko und Tempera, 236 x 290 cm, Alte Nationalgalerie, Berlin.
Dagegen glückt dem Romantiker aufs schönste überall die Entgrenzung dem eigenen Volk gegenüber. Er erweitert sich, indem er sich als Teil seines Volkes fühlt, er umfaßt sein Volk als eine mächtige Kollektivseele, an der er Teil hat, in der er Frieden findet - soweit und solange ein Romantiker Frieden finden kann. Daher die Freude an, die Ehrfurcht vor allen regelfremden Äußerungen dieser Kollektivseele (oder, wie wir es heute auffassen: solcher primitiven Individuen, die dem Kollektivum, dem Volk, der Masse noch eng verknüpft sein), das innige Verhältnis also zu Volkslied und Epos, die der Kunstdichtung, zum alten Brauch, zum «alten guten Recht», die dem abgeschliffenen Gesellschaftswesen, den erdachten Gesetzen vorgezogen werden.

An diesem Punkte muß ich mit Nachdruck auf einen oft unbeachteten, ja abgeleugneten französischen Wurzelstock der Romantik hinweisen. Es wird gern so aufgefaßt, als sei zwar die Entgrenzung des Gefühls von Rousseaus Werk ausgegangen, als sei dies aber die einzige französische Wurzel der Romantik. Das 18.Jahrhundert soll in Frankreich nur die Menschheit und den Einzelnen, den Staat nur als ein konstruktives Gebilde gekannt haben, erst die deutsche Romantik habe zwischen den Einzelnen und die Menschheit das Kollektivum der Volksseele und den gewachsenen, beseelten Staat gestellt. Dem ist nicht so. Montesquieu sieht im Staat ein Naturgebilde, an dem der konstruierende Gesetzgeber nur das Wenigste mit behutsamster Hand ändern dürfe, er hat den stärksten Sinn für gewachsenes Recht, für die coutumes de France, und das Bemühen des Esprit des Lois geht darauf aus, den Einzelnen im Volk und das Volk in der Menschheit zu bewahren. Montesquieu selber freilich war kein Romantiker, denn er kannte Objektivität. Aber ein mächtiger Ahnherr der Romantik ist er, und Herder und Fichte, Savigny und Uhland sind ihm verpflichtet. […]

Auch die romantische Sonderverehrung für das Mittelalter geht zum Teil darauf zurück, daß man hier in Stämmen und Städten, Zünften und Ständen noch Kollektivseelen begegnet. Doch haben mehrere Motive gemeinsam zur Bevorzugung dieser Epoche geführt. Hier fand der Romantiker die buntesten Kostüme für die Maskerade seines Ichs, hier eine Baukunst, in deren Formgesetz sich ein Wille zur Entgrenzung, ein Zustand der Rastlosigkeit zu erkennen gibt (oder woraus er doch gedeutet werden kann), hier endlich religiöse Strömungen, die seinem sehnsüchtigen Verhalten genehm waren. So bot ihm das Mittelalter vielfältigen Stoff zur Ich-Eeweiterung. […]

Genau den gleichen Zweifel, den man der romantischen Geschichts- und Literaturbetrachtung entgegensetzen muß, wird man auch hegen müssen, wo man romantische Naturbetrachtung am Werke sieht. Fraglos haben die Romantiker Natur in reicherem Maße geschildert und beseelt, als das vor ihnen der Fall gewesen ist, Stück um Stück haben sie Mittel- und Hochgebirge, Meer und Urwald für die Dichtung gewonnen; aber immer und immer wieder wird die beseelte Natur zum Teil, zum dienenden Teil, zur Sklavin des beseelenden Ich; sie muß ihm den Spiegel halten und ihre ehrwürdigsten Waldriesen blitzgetroffen aufflammen lassen, weil zwei junge Menschen, Chaktas und Atala, vor Liebe brennen.

Peter von Cornelius: Die drei Marien am Grabe. 1815/22,
Öl auf Leinwand, 63 x 75 cm, Neue Pinakothek, München.
Und auch die Gottheit des Romantikers trägt die Fessel, die er selber abzustreifen versucht. Bald sucht er sich an die Natur pantheistisch hinzugeben, bald versenkt er sich in Mystik, und wenn er sehr müde ist, klammert er sich an das katholische Dogma. Aber nie vermag er seinem Ich zu entsagen (weswegen denn die Franzosen mit höchstem Recht Protestantismus im romantischen Wesen verspüren). Schließlich schlingt das Ich auch den Gott in sich hinein, und das ist sein Glück und seine Qual, seine Tugend und sein Laster. Der Romantiker fühlt sich dem Dämon im eigenen Herzen verpflichtet, er fühlt sich von ihm auch privilegiert. Er fühlt sich durchweg als Genie und Ausnahmegeschöpf.

Daß er derart den Gott in sich trägt, ihm zugleich in ständiger Begriffsverwirrung befiehlt und gehorcht, erklärt die mannigfaltigen persönlichen Eigentümlichkeiten des Romantikers. Es erklärt sein Interesse, man kann wohl sagen: seinen bewundernden Anteil an krankhaften und dunklen Zuständen des Seelenlebens, an Bewußtseinsverdopplungen, an Wahnsinn, an allem, was Schaudern verkörpert oder hervorruft. Es erklärt in der Liebe ebensogut sein zartestes, schwärmerischstes, unsinnlichstes Verhalten, wie sein stärkstes erotisches Ausschweifen; es läßt hier jedes rastlose Übermaß zu, aber eben nur dieses. Es erklärt Weltflucht und Weltgier. Es erklärt, daß der Romantiker im politischen Leben ebensogut reaktionäre Ausnahmerechte als revolutionäre Freiheiten für sich fordern, daß er sich genau so als den gottgleichen absoluten Herrscher, wie als den Träger der Volksseele, als Verkörperung des Volkes ansehen, einfach gesagt: daß er ebenso leidenschaftlich konservativ wie liberal sein kann - aber beides nur scheinbar, denn seine ganze Struktur widerspricht ja allem, was den Politiker ausmacht: dem objektiven Denken, dem folgerichtigen Handeln, dem Erkennen und Respektieren von Grenzen. Es erklärt endlich seine Abneigung gegen den Philister, seine Verehrung des Künstlers.

Er selber ist immer - d. h. in seiner Vorstellung immer - schöpferischer Künstler, selbst wenn er nur ein Dilettant und Stümper ist, selbst wenn er gar nichts schafft, denn dann ist sein Leben sein Kunstwerk. Er gestaltet es frei, ohne einer Pflicht untertan zu sein, er ist ständig um Erweiterung, um Entgrenzung bemüht. Damit hängt es zusammen, daß man gar nicht von Romantik sprechen kann, ohne von romantischer Kunst zu sprechen. […]

Quelle: Victor Klemperer: Romantik und französische Romantik. In: Idealistische Neuphilologie. Festschrift für Karl Vossler zum 6. September 1922. (Hrsgr: Victor Klemperer und Eugen Lerch). Carl Winter's Universitätsbuchhandlung, Heidelberg 1922. Die zitierten Auszüge stammen aus den Seiten 10 und 15-28.

Victor Klemperer (1881-1960) brach zwar im Alter von 22 Jahren mit seinem Judentum und ließ sich evangelisch taufen, wurde aber dennoch von den Nazis 1935 aus dem Universitätsdienst entlassen. Ab 1945 lehrte er wieder Romanistik, Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an den Universitäten in Greifswald, Halle und Berlin. Victor Klemperer analysiert in seinem Buch "LTI" (Lingua Tertii Imperii) die Sprache der Nationalsozialisten. Posthum erschienen seine Erinnerungen an die Deutsche Revolution 1918/1919.


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Musik auf dem Cembalo: Wanda Landowska spielt die Goldbergvariationen (Historische Aufnahme, 1933)

Stücke auf der Gambe: Zwei Suiten aus dem 5. Buch von Marin Marais (Wieland Kuijken und Kaori Uemura, 1987). Mit Sudeleien von Georg Christoph Lichtenberg und Gekritzel von Charles Henry Bennett.

Max Rychner teilt Victor Klemperers Bedenken gegen die Romantik. Mit schaurig schönen Bildern aus der Englischen Schule. - Die Musik aber stammt aus dem Veneto (Giovanni Legrenzi, Anno 1655).


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