Jean-Baptiste Senallié le Fils: Premier Livre de Sonates (1710)

Diese obskure, unbekannte Persönlichkeit (1688-1730), die kaum jemals mit einem Eintrag in einer modernen Musikenzyklopädie gewürdigt wird, könnte sehr wohl der Begründer der Französischen Violinschule gewesen sein. Viel früher als Jean-Marie Leclair träumte Jean-Baptiste Senallié davon, sein Talent für dieses Instrument zu beweisen, dem er in seinem allzu kurzen Leben fünf Bücher mit Sonaten widmete.

Diese Sonaten waren beim Publikum so erfolgreich, dass er nicht besser als ein »leichter« Komponist in Erinnerung geblieben ist: populär, aber substanzlos. Die zeitgenössischen Musikkenner erwähnen ihn, wenn überhaupt, nur mit Überheblichkeit.

Nun wird er rehabilitiert, mit der Aufnahme seines Ersten Buches, geschrieben im jugendlichen Alter von 23, mit dem Vorsatz, seinen Vorbildern, den großen italienischen Meistern wie Corelli oder Vitali, nachzueifern.

Und das Ergebnis ist hervorragend!

Quelle: Anonymer Text auf der Rückseite des CD-Covers [freihändig übersetzt]. Das Booklet enthält Beschreibungen auf Französisch, Englisch, Spanisch und Baskisch.

TRACKLIST

Jean-Baptiste Senallié, "le Fils"
(1688 - 1730)

EXTRAITS DU

PREMIER LIVRE DE SONATES A VIOLON SEUL
AVEC LA BASSE CONTINUE
(1710)

Sonate II
1 Adagio 2'22
2 Allemande 2'55
3 Aria 3'43
4 Presto 3'00

Sonate VI
5 Preludio (grave) 3'22
6 Allemande 2'05
7 Adagio 1'37
8 Gavotte 2'37

Sonate VII
9 Adagio 2'35
10 Corrente 2'24
11 Adagio 2'05
12 Presto 2'43

Sonate I
13 Adagio 1'59
14 Allegro 1'58
15 Allemande 1'36
16 Gigue 1'39

Sonate VIII
17 Adagio 1'24
18 Corrente 2'19
19 Aria 5'38
20 Allegro 1'49

Sonate V
21 Prelude 1'44
22 Courante 2'27
23 Gavotte 1'56
24 Gigue 1'37

Sonate IV
25 Adagio 3'27
26 Allemande 1'50
27 Aria 2'18
28 Gigue 1'17

minutage total: 67'14

Odile Edouard, violon
Freddy Eichelberger, clavecin
Emmanuel Jacques, violoncelle, basse de violon

Enregistrement réalisé du 15 au 17 juin 2004,
au Château de Bény sur Mer par les soins de Manuel Mohino

(P) + (C) 2004

Track 19: Sonate VIII - Nr. 3: Aria


... müssen wir mit Bedauern ablehnen


(Lektoratsgutachten)


David und Goliath (Gustave Doré)
Anonym: Die Bibel

Ich muß sagen, als ich den Anfang dieses Manuskripts und die ersten hundert Seiten las, war ich begeistert. Alles Action, prallvoll mit allem, was die Leser heute von einem richtigen Schmöker erwarten: Sex (jede Menge), Ehebrüche, Sodomie, Mord und Totschlag, Inzest, Kriege, Massaker usw.

Die Episode in Sodom und Gomorra mit den Schwulen, die die zwei Engel vernaschen wollen, könnte von Rabelais sein; die Geschichten von Noah sind reinster Karl May, die Flucht aus Ägypten schreit geradezu nach Verfilmung ... Kurz, ein echter Reißer, gut konstruiert, mit effektsicheren Theatercoups, voller Fantasy, dazu genau die richtige Prise Messianismus, ohne die Sache ins Tragische kippen zu lassen.

Beim Weiterlesen habe ich dann gemerkt, daß es sich um eine Anthologie diverser Autoren handelt, eine Zusammenstellung sehr heterogener Texte mit vielen, zu vielen poetischen Stellen, von denen manche auch ganz schön fade und larmoyant sind, echte Jeremiaden ohne Sinn und Verstand.

Was dabei herauskommt, ist ein monströses Sammelsurium, ein Buch, das alle bedienen will und daher am Ende keinem gefällt. Außerdem wäre es eine Heidenarbeit, die Rechte von all den Autoren einzuholen, es sei denn, der Herausgeber stünde dafür gerade. Aber dieser Herausgeber wird leider nirgends genannt, nicht mal im Register, als ob es irgendwie Hemmungen gäbe, seinen Namen zu nennen.

Ich würde vorschlagen zu verhandeln, um zu sehen, ob man nicht die ersten fünf Bücher allein herausbringen kann. Das wäre ein sicherer Erfolg. Mit einem Titel wie »Die verlorene Schar vom Roten Meer« oder so.


Homer: Die Odyssee

Mir persönlich gefallt das Buch. Es hat eine schöne, fesselnde Story voller Abenteuer, es hat genau die richtige Dosis Liebe, es handelt von Gattentreue und kleinen Seitensprüngen (sehr gut die Figur der Kalypso, eine echte Männerverschlingerin), es hat sogar einen Hauch von Lolita in der Episode mit dem Mädchen Nausikaa, in der auf subtil erregende Weise alles nur angedeutet und doch sonnenklar wird. Dazu viel Action, atemberaubende Szenen mit einäugigen Giganten und Kannibalen, ja sogar ein Schuß Droge, gerade so viel, daß man keine Schwierigkeiten mit der Zensur bekommt - denn soweit ich weiß, steht der Lotus nicht auf dem Index des Narcotics Bureau. Die Schlußszenen sind in bester Western-Manier gehalten, die Keilerei ist solide, und der Bogenwettkampf hat einen meisterlich durchgehaltenen Suspense.

Was wäre sonst noch zu sagen? Das Ganze liest sich viel flüssiger als der erste Roman desselben Autors, der mit seinem sturen Beharren auf der Einheit des Ortes zu statisch war, dazu ermüdend durch die Überfülle an Ereignissen - denn nach der dritten Schlacht und dem zehnten Duell hat der Leser den Mechanismus begriffen. Und außerdem haben wir ja gesehen, was uns die Geschichte von Achilles und Patroklos mit ihrem Beiklang von gar nicht mal bloß latenter Homosexualität für einen Riesenärger mit dem Kreisjugendamt Neuwied eingebracht hat. Nichts davon in diesem zweiten Buch, hier läuft alles glatt, sogar der Ton ist ruhiger, bedächtiger, um nicht zu sagen: nachdenklicher geworden. Dazu die gekonnte Montage, das Spiel mit den Rückblenden, die Verschachtelung der Geschichten ... Mit einem Wort, große Klasse, dieser Homer ist wirklich sehr gut.

Der blinde Homer wird geführt
(William Adolphe Bouguereau, 1874)
Zu gut, würde ich sagen ... Ich frage mich, ob das alles auf seinem Mist gewachsen ist. Sicher, beim Schreiben lernt man dazu (und wer weiß, vielleicht wird sein drittes Buch wirklich ein Knüller), aber was mir Sorgen macht - und mich nach reiflicher Überlegung dazu bringt, eher abzuraten -, ist das Chaos, das sich bei den Rechten ergeben wird. Ich habe mit dem Literaturagenten Erich Linder darüber gesprochen, die Lage ist alles andere als unkompliziert.

Vor allem ist der Autor nicht mehr aufzutreiben. Nach Auskunft derer, die ihn gekannt haben, war es in jedem Fall eine Qual, mit ihm über kleine Veränderungen am Text zu reden, denn er sei blind wie ein Maulwurf gewesen und habe sich nie um das Manuskript gekümmert, ja er schien es nicht einmal richtig zu kennen: Er zitierte aus dem Gedächtnis, er wußte nicht mehr, was genau er diktiert hatte, und meinte, die Sekretärin hätte wohl etwas eingefügt. Es stellt sich also die Frage, ob er wirklich der Autor ist oder womöglich bloß seinen Namen hergegeben hat.

Das wäre soweit noch kein Problem, die Kunst des Lektorierens ist ja inzwischen hoch entwickelt, und viele Bücher, die im Lektorat umgeschrieben werden oder von Autorenteams stammen (siehe Fruttero &amb; Lucentini), werden am Ende große Erfolge. Aber bei diesem Buch sind die Ungewißheiten zu groß. Linder meint, daß die Rechte nicht allein bei Homer liegen könnten, man müßte auch mit gewissen äolischen Liedermachern verhandeln und ihnen für einige Stellen Prozente anbieten.

Nach Ansicht eines Literaturagenten in Chios müßten die Rechte von einer Gruppe dort ansässiger Rhapsoden eingeholt werden, die praktisch als »Neger« oder Ghostwriter für Homer gearbeitet hätten, allerdings wisse man nicht, ob ihre Werke beim lokalen Schriftstellerverband gemeldet seien. Ein Agent in Smyrna behauptet dagegen, daß Homer der alleinige Urheber sei, nur sei er inzwischen gestorben, und da er keine Nachkommen habe, seien die Rechte an die Stadt Smyrna gefallen. Smyrna ist jedoch nicht die einzige Stadt, die solche Ansprüche erhebt. Die Unmöglichkeit einer Klärung, ob und wann unser Mann gestorben ist, steht auch einer Berufung auf § 64 des Urheberrechtsgesetzes im Wege, wonach ein Werk siebzig Jahre nach dem Tod seines Autors frei wird. Neuerdings hat sich jetzt ein gewisser Kallimachos gemeldet, der sämtliche Rechte zu haben behauptet, aber die Odyssee nur hergeben will, wenn wir auch die Thebais, die Kypria und die Epigonen nehmen, und ganz davon abgesehen, daß diese Werke nicht viel taugen, sind sie nach Ansicht vieler auch gar nicht von Homer. Und selbst angenommen, wir ließen uns darauf ein, in welche Reihe sollten wir sie dann tun? Diese Leute sind doch heutzutage alle bloß geldgierige Spekulanten!

Ich habe mal vorsichtig bei Aristarch von Samothrake angefragt, ob er eventuell ein Vorwort schreiben würde, er hat Renommee und das nötige Know-how, um die Sache in Ordnung zu bringen, aber da kämen wir vom Regen in die Traufe: er will direkt im Buch ausführlich erörtern, was jeweils authentisch ist und was nicht! Auf die Art machen wir eine historisch-kritische Ausgabe und ade, hohe Auflage ... Dann lieber gleich das Ganze dem Griechischen Klassikerverlag überlassen, der braucht zehn Jahre und bringt am Ende ein schnuckliges Bändchen zu 180 Mark heraus, das er als Weihnachtsgabe an Bankdirektoren versendet.

Fazit: Wenn wir uns in das Abenteuer stürzen, riskieren wir endlose Rechtsstreitigkeiten und kommen in Teufels Küche, das Buch wird womöglich beschlagnahmt, aber es ist keins von denen, die daraufhin um so schneller unterm Ladentisch weggehen, es ist einfach weg vom Fenster. Vielleicht kann man es nach zwei, drei Jahren an einen Taschenbuchverlag verkaufen, aber bis dahin hat man viel Geld investiert und nichts davon wiedergesehen.

Tut mir sehr leid, das Buch als solches hätte die Mühe verdient. Aber wir können nicht auch noch anfangen, uns als Detektive zu betätigen. Ich würde die Finger davon lassen.

Dante Alighieri
(Samuel Perkins Gilmore (1868-1948))
Alighieri, Dante: Die Göttliche Komödie

Dieser Alighieri ist zwar ein typischer Sonntagsautor (im Berufsleben gehört er der Apothekerzunft an), doch seine Arbeit läßt unbestreitbar ein gewisses technisch-formales Talent erkennen, desgleichen auch einen beachtlichen epischen »Atem«. Die Arbeit - geschrieben in der toskanischen Volkssprache - setzt sich aus ca. hundert »Gesängen« in Terzinen zusammen und liest sich streckenweise durchaus interessant. Besonders feinsinnig erscheinen mir die astronomischen Beschreibungen sowie einige knappe und prägnante theologische Urteile. Leichter zu lesen und in der Themenwahl populärer ist der dritte Teil des Buches, der Fragen behandelt, die eher nach dem Geschmack der Mehrheit sind, Alltagsprobleme eines möglichen Lesers wie etwa die ewige Seligkeit, die mystische Gottesschau und die Gebete zur Heiligen Jungfrau. Dunkel und prätentiös ist dagegen der erste Teil, durchsetzt mit primitiver Erotik, Gruselmomenten und wirklich obszönen Stellen. Dies ist bereits einer der nicht wenigen Punkte, die gegen eine Annahme sprechen, denn ich frage mich, wie der Leser diesen ersten Teil überstehen soll, der an Erfindungsreichturn nicht mehr enthält als ein x-beliebiges Handbuch über das Totenreich, ein Moraltraktat über die Sünde oder die Legenda aurea des Fra Jacopo da Varagine.

Das entscheidende Hindernis ist jedoch die von unausgegorenen Avantgarde-Aspirationen diktierte Wahl des toskanischen Dialekts. Daß unser gewohntes Latein heute innovatorische Anstöße braucht, ist inzwischen communis opinio (und keineswegs nur in kleinen Avantgardezirkeln), aber es gibt eine Grenze, wenn nicht in den Gesetzen der Sprache, so doch zumindest in der Akzeptanzkapazität des Publikums. Wir haben ja gesehen, was aus der Operation mit den sogenannten »sizilianischen Dichtern« geworden ist, deren Werke ihr Verleger eigenhändig vertreiben mußte, indem er sie per Fahrrad in die Buchläden brachte, wo sie dann in den Ramschkisten landeten.

Außerdem, wenn wir erst einmal damit anfangen, eine Dichtung in toskanischer Mundart zu verlegen, werden wir bald auch eine in ferraresischer und eine weitere in friaulischer usw. herausbringen müssen, um die marktbeherrschende Stellung nicht zu verlieren. Sicher, derlei avantgardistische Unternehmungen steigern das Renommee, aber mit einem so monströsen Buch wie diesem hier kann man sich nicht darauf einlassen. Ich persönlich habe nichts gegen Reime, aber die quantitierende Metrik ist bei den Lyriklesern immer noch die beliebteste, und ich frage mich, ob ein normaler Mensch sich diese endlose Reihe Terzinen mit Genuß reinziehen kann, besonders wenn er, sagen wir, aus Mailand oder Venedig stammt. Denken wir lieber an eine gute populäre Reihe, die zu erschwinglichen Preisen Texte wie etwa die Mosella von Decimus Magnus Ausonius oder die Carmina Burana reprintet. Überlassen wir den Avantgardezeitschriften die numerierten Editionen der Merseburger Zaubersprüche: »Ben zi bena ...« Feine Sachen, Sprachfutter für Hypermodernisten.


De Sade, Donatien Alphonse François: Justine

Das Manuskript lag in einem Haufen Sachen, die ich alle noch diese Woche erledigen mußte, und da habe ich es, ehrlich gesagt, nicht ganz gelesen. Ich habe nur dreimal aufs Geratewohl irgendwo reingeschaut, aber ihr wißt ja, für ein geübtes Auge genügt das schon.

Also: Beim ersten Mal fand ich eine Flut von Seiten über Naturphilosophie, mit Erörterungen über die Grausamkeit des Lebenskampfes, die Reproduktion der Pflanzen und die Aufeinanderfolge der Tierarten. Beim zweiten Mal mindestens fünfzehn Seiten über den Begriff der Lust, über die Sinne und die Einbildungskraft und dergleichen mehr. Beim dritten Mal weitere zwanzig Seiten über die Herrschaftsverhältnisse zwischen Mann und Frau in den verschiedenen Ländern der Welt ... Mir scheint, das genügt. Wir sind schließlich nicht auf der Suche nach einem philosophischen Werk, das Publikum will heutzutage Sex, Sex und noch mal Sex. Und möglichst in allen Lagen. Die Linie, an die wir uns halten sollten, ist die der Liebesabenteuer des Chevalier Faublas. Philosophische Abhandlungen sollten wir lieber Suhrkamp überlassen.

Miguel de Cervantes Saavedra
Cervantes, Miguel: Don Quijote

Das nicht immer leicht lesbare Buch ist die Geschichte eines spanischen Edelmannes, der mit seinem Schildknappen durch die Welt zieht und allerlei phantastischen Ritterträumen nachjagt. Der Edelmann ist ein bißchen verrückt (die Figur wird sehr plastisch gezeichnet, erzählen kann dieser Cervantes), während sein Knappe ein Simpel mit einem gewissen bäuerlich-pfiffigen Common sense ist (ein Typ, mit dem sich der Leser unschwer identifizieren kann), der die Wahnvorstellungen seines Herrn zu entmystifizieren trachtet. Soviel zur Story, die ein paar schöne Einfälle und viele saftige, amüsante Szenen aufweist. Aber ich möchte etwas zu bedenken geben, was über die Begutachtung eines einzelnen Werkes hinausgeht.

In unserer wohlfeilen Reihe »Des Lebens Wechselfälle« haben wir mit beachtlichem Erfolg den Amadis von Gaula, die Legende vom Gral, den Tristan-Roman, den Troja-Roman, den Lai vom Voggelin und die Saga von Erec und Enide herausgebracht. Gerade jetzt haben wir die Option auf den großen Wurf dieses jungen Barberino, Das fränkische Königshaus, ein Roman, der meines Erachtens das Buch des Jahres wird und der womöglich sogar - toitoitoi - den ZDF-Literaturpreis bekommt, denn so was gefällt den Juroren. Wenn wir nun den Cervantes nehmen, bringen wir damit ein Buch auf den Markt, das uns, so schön es auch sein mag, unsere ganze bisher gepflegte Verlagspolitik versaut und all diese anderen Ritterromane zu albernen Narrenflausen abstempelt. Nichts gegen die Freiheit des Wortes, nichts gegen Widerspruch, Auflehnung etc. etc., aber wir müssen doch auch zu unseren Autoren stehen. Um so mehr, als dieser Don Quijote, wie mir scheint, das typische opus unicum ist, der Autor kommt gerade erst aus dem Gefängnis, wo es ihm ziemlich übel ergangen sein muß, ich weiß nicht mehr, ob man ihm einen Arm oder ein Bein abgehackt hat, jedenfalls macht er weiß Gott nicht den Eindruck, als wollte er noch was anderes schreiben. Ich fände es äußerst bedauerlich, wenn wir, auf der Jagd nach Novitäten um jeden Preis, eine Verlagspolitik kompromittieren würden, die bisher sowohl populär wie moralisch und (sagen wir's ruhig) auch profitabel war. Ablehnen.

Immanuel Kant
Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft

Ich habe das Manuskript Prof. Vittorio Saltini zu lesen gegeben, und er meint, daß dieser Kant nicht viel taugt. Dessenungeachtet habe ich dann selbst nochmal reingeschaut, in unserer kleinen philosophischen Reihe könnten wir ja schon ein Bändchen über Moral gebrauchen, das dann womöglich an der Uni in den Proseminaren benutzt wird. Tatsache ist, daß der deutsche Originalverlag uns dieses Buch nur geben will, wenn wir uns verpflichten, nicht nur das voraufgegangene Werk des Autors dazuzunehmen, das ein ziemlich unförmiges Riesending in mindestens zwei dicken Bänden ist, sondern auch das, was dieser Kant derzeit gerade schreibt, irgendwas über Kunst oder das ästhetische Urteil, wenn ich es richtig verstanden habe. Außerdem heißen die drei Bücher alle fast gleich, wir müßten sie also entweder alle drei zusammen in einer Kassette verkaufen (und das hieße zu einem prohibitiven Preis), oder sie würden leicht miteinander verwechselt werden und die Leute würden sagen: »Aber das habe ich doch schon gelesen!« Am Ende ergeht es uns so wie damals mit der summa von diesem Dominikaner, die wir erst für teures Geld übersetzen ließen und dann mittendrin an Bertelsmann abtreten mußten, weil wir's nicht mehr bezahlen konnten.

Aber damit nicht genug, der deutsche Literaturagent hat mir gesagt, wir müßten uns auch zur Übernahme der kleineren Schriften dieses Kant verpflichten, und das sind jede Menge Titel, darunter sogar etwas über Astronomie. Vorgestern habe ich nun versucht, ihn in Königsberg anzurufen, um mal vorzufühlen, ob wir uns nicht auf einen Titel verständigen könnten, und da hat die Zugehfrau mir gesagt, zwischen fünf und sechs sei der Herr Professor nie zu Hause, weil er um diese Zeit immer seinen Spaziergang mache, auch zwischen drei und vier sei er nicht zu sprechen, weil er da seinen Mittagsschlaf halte, na und so weiter. Also, ich würde mich nicht mit so einem Typ einlassen, am Ende haben wir seine ganzen Bücher stapelweise im Lager.


Kafka, Franz: Der Prozeß

Der kleine Roman ist nicht übel, ein Krimi mit einigen Stellen in bester Hitchcock-Manier; so etwa der Mord am Ende, das wird schon sein Publikum finden.

Allerdings scheint es, als hätte der Autor unter Zensurbedingungen geschrieben. Was sollen all diese vagen Anspielungen, warum dieses Weglassen von Eigennamen und Ortsangaben? Und wieso wird dem Protagonisten überhaupt der Prozeß gemacht? Wenn man diese Punkte genauer klärt, das Ganze konkreter situiert, die Umstände und den Verlauf präzisiert durch Fakten, Fakten und nochmal Fakten, dann wird die Handlung durchsichtiger und der Suspense besser garantiert.

Diese jungen Schriftsteller meinen immer, es wäre »Literatur«, wenn sie bloß vage »ein Mann« schreiben, statt klipp und klar »der Herr Sowieso an dem und dem Ort zu der und der Stunde ...« Also, wenn wir in diesem Sinne Hand anlegen dürfen, okay, andernfalls würde ich ablehnen.

Joyce, James: Finnegans Wake

Ich muß darum bitten, bei Verschicken der zu prüfenden Titel ein bißchen mehr aufzupassen. Ich bin der Lektor für englischsprachige Bücher, und dies hier ist in weiß der Teufel was für einer Sprache geschrieben. Das Manuskript geht mit gesonderter Post zurück.


(1972)

Quelle: Umberto Eco: ... müssen wir mit Bedauern ablehnen (Lektoratsgutachten). In: Platon im Striptease-Lokal. Parodien und Travestien. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1993, ISBN 3-446-14366-1. Seite 130-146 (gekürzt).


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Ein Meisterwerk der Barocken Violine von Heinrich Ignaz Franz Biber: Die Rosenkranz-Sonaten von 1676. (John Holloway, Violine)

Violinsonaten aus dem 20. Jahrhundert, von Arthur Honegger. Mit Erich Auerbachs (1892-1957) Referat über Giambattista Vico (1668-1744). Bebildert von Joachim Patinier (1480-1524).

So brilliant wie Eco die unwissenden Lektoren verspottet, verspottet Bustos Domecq die moderne Kunst. Eventuell noch brillanter, denn er ist zu zweit (Borges und Bioy Casares).


CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 48 MB
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