J. S. Bach: Orchestersuiten Nr. 1-4 (Sir Neville Marriner, 1971)

Allwöchentlich am Freitagabend unterhielt Bach die vornehmen Gäste im Zimmermannschen Kaffeehaus auf der Leipziger Katharinenstraße mit den Orchesterkonzerten seines Collegium musicum. Weithin berühmt war dieses „Bachische Collegium musicum“ – so berühmt, dass man während der Leipziger Messe zwei Konzerte wöchentlich veranstalten musste, um des Andrangs Herr zu werden. Zum guten Ruf trug nicht nur der berühmte „Dirigent“ bei, der sein Orchester natürlich nicht von vorne leitete, sondern als Konzertmeister von der ersten Geige aus oder als Solist am Cembalo. Auch die Mitglieder des Collegium musicum, bis zu 40 Studenten der Leipziger Universität, waren so brillante Musiker, dass sie nach dem Studium der Juristerei oft genug die Musik zum Beruf machten, wozu der Privatunterricht beim Thomaskantor nicht wenig beitrug. Last but not least, waren es prominente Gastsolisten, die den Glanz der Bachschen Orchesterkonzerte vermehrten, unter ihnen Johann Adolf Hasse und seine Gemahlin Faustina aus Dresden, der Lautenist Sylvius Leopold Weiss und der Geiger Franz Benda.

Auch Pierre-Gabriel Buffardin, der Soloflötist der Dresdner Hofkapelle, hat in Leipzig gastiert. Es liegt nahe anzunehmen, dass Bach für diesen Auftritt die Ouvertüre h-Moll komponiert hat, seine so genannte „zweite Orchestersuite“. Ob man es hier tatsächlich mit einem Orchesterstück zu tun hat oder ob die Streicher mit Rücksicht auf die sanfte Traversflöte eher solistisch zu besetzen sind, steht dahin. In jedem Fall handelt es sich um die französischste der „Orchestersuiten“ Bachs.

Für keine dieser vier Suiten reichen die erhaltenen Quellen vor das Jahr 1725 zurück. Dennoch kann man in fast jedem Konzertführer heute lesen, dass sie in Bachs Köthener Zeit zwischen 1717 und 1723 entstanden seien. Für die vierte Orchestersuite in ihrer verschollenen Urfassung ohne Trompeten lässt sich dies noch einigermaßen verlässlich annehmen, vielleicht auch für die erste, obwohl sich Bach erst Anfang 1725 in Leipzig ein Orchestermaterial dafür anfertigen ließ. Sicher erst um 1730 ist die dritte Orchestersuite mit dem berühmten „Air“ entstanden, um 1738 die h-Moll-Suite für Flöte und Streicher. In diesen beiden Werken ist der Einfluss der galanten Dresdner Hofmusik so deutlich, dass sie auf keinen Fall schon in Köthen komponiert worden sein können. Gewisse Details der h-Moll-Suite wie der strenge Quintkanon in der Sarabande weisen sogar auf Bachs späten Stil voraus. Es gibt also keinen Grund anzunehmen, dass diese Suite wesentlich vor 1738 komponiert wurde, als Bach ihr Aufführungsmaterial anfertigte.

Das Oertelsche Haus mit dem
 Zimmermannschen Kaffeehaus,
aus einem Kupferstich von
Johann George Schreiber (1732)
 [Quelle]
Die Orchestersuite Nr. 2 in h-moll BWV 1067

Bach benutzte hier einen besonderen Typus der Orchestersuite: die Ouvertüre mit konzertierendem Soloinstrument. In Telemanns a-Moll-Suite für Blockflöte und Streicher fand er ein frühes Musterbeispiel für diesen Typus vor, in der g-Moll-Ouvertüre seines Vetters Johann Bernhard Bach ein Beispiel für Solovioline und Streicher. Die dort vorgefunden Prinzipien des Konzertierens übertrug Bach nun auf die modische Traversflöte.

Auf den Franzosen Buffardin als Solisten deutet der Stil der Suite hin: Keine andere Orchestersuite Bachs beginnt so demonstrativ „à la française“, und zwar nicht nur mit der üblichen französischen Ouvertüre, sondern mit einer Fülle von „Agréments“, den typisch französischen Verzierungen, die den Beginn dieses Satzes prägen. Schleifer, Triller und „Ports de voix“ paaren sich mit punktierten Rhythmen zu einem Thema, das imitatorisch durch die Stimmen geführt wird. Bach entlehnte dieses Thema einer Streichersonate des von ihm sehr bewunderten François Couperin, der Sonate “La Sultane”. Die Fuge in der Mitte des Satzes ist dagegen polnisch geprägt mit ihrem kraftvollen Synkopenthema. Bachs höchster Dienstherr war der sächsische Kurfürst Friedrich August II., der Sohn Augusts des Starken, der als König August III. auch über Polen herrschte. Dadurch gelangte polnische Musik nach Dresden, nicht nur in Form von Polonaisen und Mazurken, sondern auch als „polnisch-hanakischer Stil“ in der Konzertmusik. Mit dem polnisch anmutenden Fugenthema im ersten Satz der h-Moll-Suite erinnerte Bach seine Leipziger Zuhörer daran, dass er 1736 zum „churfürstlich sächsischen und königlich polnischen Hofcompositeur“ ernannt worden war. In dieser Position musste auch ein Bach im polnischen Stil schreiben. Die kunstvolle Durchführung dieses Fugenthemas in den vierstimmigen Tuttiteilen wird von virtuosen Flötensoli unterbrochen. Dabei ist das Solothema der Flöte nichts anderes als eine Variante des Fugenthemas, begleitet nur von den Geigen ohne Continuo, was einen besonders zarten Klang ergibt. Nach der Fuge kehrt der langsame Teil wieder, allerdings nicht im geraden Takt wie zu Beginn, sondern im Dreiertakt, mit einer Variante des Couperinschen Themas, die noch stärker verziert. Bach wollte hier offenbar französischer sein als die Franzosen.

Auf diesen pathetischen, langen und komplexen Eingangssatz folgen sechs Tänze, die äußerlich viel einfacher und „annehmlicher“ scheinen, als sie in Wahrheit sind: Jeder von ihnen wartet mit typisch Bachschen Komplikationen in der Satztechnik auf. So wird das melancholische Thema des Rondeau mit seinen Seufzermotiven in zwei Episoden kunstvoll durchgeführt, was aber so zart klingt, dass man es kaum wahrnimmt. Auch den strengen Kanon in der Sarabande könnte man leicht überhören: Flöte und erste Geige gehen mit einem sanften Thema voran, der Bass folgt im Taktabstand im Kanon der Unterquint. Die beiden Mittelstimmen reichern den Satz zusätzlich mit Vorhalts- und Durchgangsdissonanzen an, was angesichts des komplexen Themas mit seinen vielen Überbindungen wohl nur einem Bach gelingen konnte.

Bachs Orchestersuite Nr 2, Badinerie
[Symbolfoto]
Die Bourrée wirkt beim ersten Hören simpel und mitreißend, dabei wiederholt der Bass unablässig dieselben vier Noten. Dieser primitive Basso ostinato und die polnischen Wendungen im Flötensolo verweisen auf den polnischen Stil, wie er sich in der folgenden Polonaise in klassischer Weise darbeitet. Bachs jüngster Sohn Johann Christian fand diesen polnischen Tanz des Vaters so eingängig, dass er ihn für Cembalo bearbeitet hat. Tatsächlich gelang es Bach, in der Melodie dieser Polonaise den ganzen Stolz und die raue Schönheit der polnischen Musik einzufangen, wozu auch das langsame Tempo (Lentement) und die kraftvolle Ausführung des Staccato beitragen. Als Mittelteil schrieb er ein Double, eine virtuose Variation über das Thema für den Flötisten. Während der Bass die Melodie der Polonaise übernimmt, ergeht sich die Flöte in virtuosen Fiorituren und großen Sprüngen bis hin die dritte Oktav hinein – eine Spezialität von Buffardin, die damals längst nicht jeder Flötist bewältigen konnte.

Auch das Menuett mutet schlichter an, als es ist. Der anmutige Aufschwung des ersten Taktes wird sogleich vom Bass aufgegriffen und immer wieder zwischen die zarten Wendungen der Oberstimme eingestreut. Es folgt das krönende Finale, die berühmte Badinerie mit ihrem virtuosen Flötensolo über der dichten Streicherbegleitung. Titel wie Badinage oder Badine konnte Bach bei seinen französischen Zeitgenossen finden, die damit freilich Tänze sehr unterschiedlichen Charakters bezeichneten. Bachs Satz erinnert am ehesten an die Badine aus dem ersten Concert für Flöte und Continuo von Montéclair, gedruckt 1724. In beiden Fällen hat man es mit einem virtuosen Satz im Zweiertakt zu tun, wirbelnd im Thema, virtuos im Flötensolo. Der Franzose Montéclair wollte damit seine ungehobelten Landsleute aus der Auvergne charakterisieren. Wen Bach wohl im Sinn hatte, als er seine Badinerie komponierte?

Quelle: Kammermusikführer von Villa Musica (Rheinland-Pfalz)


Track 8: Orchestersuite Nr.2 in h-moll, 1. Ouvertüre


TRACKLIST

Johann Sebastian Bach

Orchestersuiten (Ouvertüren) Nr. 1 - 4

Orchestersuite (Ouvertüre) Nr.1 C-dur BWV 1066
[01] 1. Ouvertüre 5:55
[02] 2. Courante 2:08
[03] 3. Gavotte I/II 2:15
[04] 4. Forlane 1:35
[05] 5. Menuett I/II 2:20
[06] 6. Bourrée I/II 2:40
[07] 7. Passepied I/II 2:24

Orchestersuite (Ouvertüre) Nr.2 h-moll BWV 1067
[08] 1. Ouvertüre 7:28
[09] 2. Rondeau 1:39
[10] 3. Sarabande 3:03
[11] 4. Bourrée I/II 1:53
[12] 5. Polonaise/Double 2:58
[13] 6. Menuett / 2:42
7. Badinerie

Orchestersuite (Ouvertüre) Nr.3 D-dur BWV 1068
[14] 1. Ouvertüre 6:38
[15] 2. Air 5:10
[16] 3. Gavotte I/II 3:47
[17] 4. Bourrée / 4:13
5. Gigue

Orchestersuite (Ouvertüre) Nr.4 D-dur BWV 1069
[18] 1. Ouvertüre 7:23
[19] 2. Bourrée I/II 2:45
[20] 3. Gavotte 2:00
[21] 4. Menuett I/II 2:59
[22] 5. Réjouissance 2:47

Gesamtspielzeit: 78:42

William Bennett, Flöte [08]-[13]
Thurston Dart, Cembalo
Academy of St Martin in the Fields
Sir Neville Marriner

® 1971

Track 13: Orchestersuite Nr.2 in h-moll, 6. Menuett - 7. Badinerie






Giacomo LeopardiHelmut Endrulat
Il tramonto della lunaMonduntergang
Quale in notte solinga,
Sovra campagne inargentate ed acque,
Là 've zefiro aleggia,
E mille vaghi aspetti
E ingannevoli obbietti
Fingon l'ombre lontane
Infra l'onde tranquille
E rami e siepi e collinette e ville;
Giunta al confin del cielo,
Dietro Apennino od Alpe, o del Tirreno
Nell'infinito seno
Scende la luna; e si scolora il mondo;
Spariscon l'ombre, ed una
Oscurità la valle e il monte imbruna;
Orba la notte resta,
E cantando, con mesta melodia,
L'estremo albor della fuggente luce,
Che dianzi gli fu duce,
Saluta il carrettier dalla sua via;

Tal si dilegua, e tale
Lascia l'età mortale
La giovinezza. In fuga
Van l'ombre e le sembianze
Dei dilettosi inganni; e vengon meno
Le lontane speranze,
Ove s'appoggia la mortal natura.
Abbandonata, oscura
Resta la vita. In lei porgendo il guardo,
Cerca il confuso viatore invano
Del cammin lungo che avanzar si sente
Meta o ragione; e vede
Che a se l'umana sede,
Esso a lei veramente e fatto estrano.

Troppo felice e lieta
Nostra misera sorte
Parve lassù, se il giovanile stato,
Dove ogni ben di mille pene è frutto,
Durasse tutto della vita il corso.
Troppo mite decreto
Quel che sentenzia ogni animale a morte,
S'anco mezza la via
Lor non si desse in pria
Della terribil morte assai più dura.
D'intelletti immortali
Degno trovato, estremo
Di tutti i mali, ritrovàr gli eterni
La vecchiezza, ove fosse
Incolume il desio, la speme estinta,
Secche le fonti del piacer, le pene
Maggiori sempre, e non più dato il bene.

Voi, collinette e piagge,
Caduto lo splendor che all'occidente
Inargentava della notte il velo,
Orfane ancor gran tempo
Non resterete; che dall'altra parte
Tosto vedrete il cielo
Imbiancar novamente, e sorger l'alba:
Alla qual poscia seguitando il sole,
E folgorando intorno
Con sue fiamme possenti,
Di lucidi torrenti
Inonderà con voi gli eterei campi.
Ma la vita mortal, poi che la bella
Giovinezza sparì, non si colora
D'altra luce giammai, nè d'altra aurora.
Vedova è insino al fine; ed alla notte
Che l'altre etadi oscura,
Segno poser gli Dei la sepoltura.
Wie in einsamer Nacht
über silberglänzenden Feldern und Wassern
der Westwind säuselnd weht
und tausend reizvolle Bilder
und trügerische Gestalten
die fernen Schatten entfalten
zwischen den schimmernden, stillen
Wellen, den Zweigen und Hecken, den Hügeln und Villen
und wie am Rande des Himmels
am Apennin, an den Alpen, am tuskischen Meere
im Schoß der unendlichen Leere
der Mond versinkt und die Welt sich entfärbt und verblaßt,
die Schatten schwinden und ringsum Finsternis schwillt
und Tal und Berg in ein einziges Dunkel hüllt,
die Nacht erblindet zurückbleibt
und mit einem Liede, einer traurigen Weise,
den letzten Schimmer des fliehenden Lichts, das ihm eben
als Führer noch Rat gegeben,
der Fuhrmann zum Abschiede grüßt auf seiner Reise,

so entschwindet und eben
so hinterläßt die flüchtige
Jugend das sterbliche Leben.
Es fliehen die Schatten und Schemen
geliebter Träume, und von der stillen Hoffnung
gilt es, Abschied zu nehmen,
die im Leben der Sterbliche braucht, um Mut zu fassen.
Dunkel und verlassen
verbleibt das Leben. Ohne der Hoffnung Licht
sucht vergeblich der Wandrer, verwirrt und verstört,
des weiten, ihm bestimmten Weges Ziel
und Zweck und erkennt, daß die Welt,
die er für die seine hält,
ihm nicht mehr und er ihr nicht mehr zugehört.

Allzu glücklich und heiter
schiene unser Los
denen dort droben, wenn die Jahre der Jugend,
wo jede Freude mit tausend Leiden erkauft wird,
dauern sollten bis an des Lebens Ende,
allzu mild der Beschluß,
daß jedes Geschöpf sich dem Tod unterwerfen muß,
wenn man der Hälfte des Lebens
nicht noch härtere Not
zugedacht hätte als den schrecklichen Tod.
Ihres unsterblichen Geistes
würdig befanden die Götter
und entdeckten das äußerste aller Übel,
das gebrechliche Alter,
wo ungebrochen die Sehnsucht, die Hoffnung erloschen,
vertrocknet sein sollte der Quell der Freuden, die Plagen
ständig vermehrt und versagt jedes Wohlbehagen.

Ihr, ihr Hügel und Strände,
werdet, wenn jener Glanz erlischt, der im Westen
den Schleier der Nacht in silbernen Schimmer faßt,
nicht lange verwaist sein. Denn bald schon
werdet ihr auf der anderen Seite sehen,
wie der Himmel erblaßt
und wie in zarter Röte der Morgen emporsteigt.
Und auf dem Fuße folgen wird ihm die Sonne,
und blitzend wird sie ringsum
mit ihren flammenden Gluten
in gleißenden, mächtigen Fluten
zugleich mit euch die Weiten des Himmels erhellen.
Aber das Menschenleben, wenn erst die schöne
Jugend entschwand, wird nie mehr Farbe sich borgen
von einem anderen Licht, einem anderen Morgen.
Witwe bleibt es. Und für das Dunkel der Nacht,
in das alle Zeiten entweichen,
schufen die ewigen Götter das Grab zum Zeichen.


Giacomo Leopardi (1798-1837)

Giacomo Leopardi ist einer der wichtigsten italienischen Dichter des 19. Jahrhunderts. Bereits im Alter von 16 Jahren besaß er eine außerordentliche Bildung, er konnte Latein und Griechisch, Französisch, Englisch, Spanisch und Hebräisch. Leopardis kurzes Leben – er wurde nur 39 Jahren als – war charakterisiert von ständiger Geldnot, dem Fehlen einer erfüllten Beziehung und einer schwachen Gesundheit. Das gab seinem Werk eine melancholische Grundstimmung. Aber aus Leopardis Werken spricht so viel Leben, Gefühl, Witz und Geist, dass Leopardis Melancholie dem Leser alles andere als trist erscheint.


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Die Suche nach "Mond" in der KMK fand ihn in einer "Verklärten Nacht": Zwei Menschen gehn durch kahlen, kalten Hain; der Mond läuft mit, sie schaun hinein.


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