J. S. Bach: Die Englischen Suiten (Glenn Gould, 1971 bis 1976)

Vielleicht rührt die Bezeichnung von einem englischen Auftraggeber; gleichwohl ist nach wie vor ungeklärt, warum die Suiten "englische" heißen. Ihrer Form nach folgen sie (wie auch die kleineren "französischen" Schwestern und die Partiten) weitgehend dem traditionellen französischen Tanzsuiten-Typus. Zu ihm gehören die ruhig schreitende Allemande, die fließende Courante, die gravitätische Sarabande und einer Gigue als flotter 6/8-Kehraus, wobei Bach ein gewichtiges Präludium voranstellte und meist noch eine Bourrée einfügte. Auch wenn hier keine Perücke mehr ihr Bein hebt: Bachs Zyklen sind sein Beitrag zur Gesellschaftsmusik der Zeit - allerdings auf höchst stilisiertem Niveau, ästhetisch wie technisch-kontrapunktisch.

Glenn Gould konzentriert sich ganz auf letzteres. Er gebärdet sich wie ein aseptisch sezierender Gerichtsmediziner, der in Hast und gleichzeitig äußerster Konzentration motivische Details und polyphon-kontrapunktische Verwicklungen offenlegt. Dass gerade diese scheinbare "Kälte" einen ästhetisch eigenen Reiz entfaltet, ist das Geheimnis von Goulds Außenseitertums

Quelle: Christoph Braun: im Rondo Klassik Magazin

Noch vor gar nicht allzu langer Zeit wurde mit großem Nachdruck vertreten, dass die sogenannten Englischen Suiten von Johann Sebastian Bach in den Zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts komponiert worden wären - vielleicht sogar nach den Französischen Suiten, jedenfalls aber in den Jahren, in denen sich Bach am Hof von Köthen aufhielt, der letzten Station bevor er in Leipzig als Thomaskantor angestellt wurde. Natürlich erkannte man stilistische Unterschiede zwischen den beiden Suiten-Sammlungen. Deshalb wurde mitunter auch an der Richtigkeit dieser Schlussfolgerung gezweifelt. Andererseits glaubte man, dass die formal streng aufgebauten Englischen Suiten besser ins Raster der späteren Werke des Leipziger Kantors passen als die kürzeren und eigenwilligeren Französischen Suiten.

Nach beinahe fünfzig Jahren wissenschaftlicher Forschung insbesondere hinsichtlich der Fragen, welche Musik Bach gekannt haben musste, mit welcher er sich selbst ausbildete und welche er kopierte, hat sich unser Bild wesentlich verändert. Übrigens sind es nicht allein die Noten, die uns die Richtung weisen: Auch die Art der Handschriften, Bachs eigene Handschrift (die Art, wie er Vorzeichen und Schlüssel notierte) und die seiner Schüler, außerdem die Quellen, die er in handschriftlicher Kopie oder im Druck vorliegen hatte, sowie Anmerkungen von Bachs Zeitgenossen und insbesondere seiner Kinder haben die moderne Wissenschaft bei ihrer Spurensuche unterstützt. So werden Bachs Englische Suiten inzwischen beinahe ein Jahrzehnt früher eingeordnet, nicht nach Köthen, sondern nach Weimar, also vor das Jahr 1717.

Es ist allgemein bekannt, dass Bach außergewöhnlich lernbegierig war. Sicherlich in den ersten 25 Jahren seiner Laufbahn, bis er sich einmal in Leipzig niedergelassen hatte, studierte und kopierte er nach Herzenslust eine umfangreiche Sammlung italienischer, französischer, englischer, niederländischer und deutscher Werke. So brachte Prinz Johann Ernst nach einer Reise in die Niederlande aus Amsterdam verschiedene Werke mit nach Weimar, die dort bei Estienne Roger im Druck erschienen waren. Darunter befanden sich wahrscheinlich die Estro Armonico von Antonio Vivaldi (herausgegeben 1711) und sechs Cembalosuiten von Charles Dieupart (herausgegeben 1701). Der Einfluss beider Komponisten lässt sich in den Englischen Suiten wahrnehmen, der Vivaldis insbesondere in den Präludien (höchstens mit Ausnahme des Präludiums der Ersten Suite), der Dieuparts in den darauf folgenden Tänzen.

Die Bezeichnung Englische Suiten stellt uns noch immer vor ein Rätsel. Dieser Titel muss bereits zu Bachs Lebzeiten eingeführt worden sein. Die am häufigsten zitierte Quelle ist eine Notiz von Johann Christian Bach auf der Titelseite der Ersten Suite (BWV 806): „Fait pour les Anglois“. Das könnte suggerieren, Bach habe die Suiten für einen wohlhabenden Engländer geschrieben. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass sich der Beiname daher erklärt, dass Bach bei diesen Suiten die Notationsweise älterer englischer Vorbilder benutzte. Es geht also nicht um den Stil der Musik, sondern um die Notationstechnik mit einem Violin- und Bassschlüssel, die dem Notensystem anstelle eines Sopran- und Basschlüssels - wie in der deutschen Notation - vorangestellt wurden.

Glenn Gould
In stilistischer Hinsicht sind die Englischen Suiten eigentlich vor allem französische Suiten, d.h. eine Serie von Tänzen (eine Allemande, eine Courante, eine Sarabande, nach Wahl eine Bourrée, eine Gavotte, ein Menuett oder ein Passepied und meistens zu Schluss eine Gigue), denen ein Präludium vorangeht. Daher auch Bachs eigene Benennung: „Suites avec Prélude“. Aber die Präludien weisen keinen französischen Stil auf, mit einer langsamen, nicht selten auch aufwendigen Einleitung und anschließend viel kontrapunktischem Feuerwerk, sondern den italienischen Stil: straff, brillant, konzertant. Die eleganten Tänze enthalten mitunter Varianten und Doubles. Dabei kam Bach seine phänomenale Beherrschung der musikalischen Umspielung zugute.

Ein verwirrender Aspekt bei der richtigen Datierung der Englischen Suiten ist sicherlich die stilistische Einheit des größeren Teils der Suiten. Diese wird nicht zuletzt auch durch die den vielen französischen Tänzen (ebenso wie den Französischen Suiten und den Partiten für Cembalo, auch bekannt als Deutsche Suiten) eigene Tonwiederholung zu Beginn eines beinahe jeden Teils, sowie durch bestimmte innerhalb einer Suite regelmäßig wiederkehrende harmonische Verbindungen hervorgerufen. In den nun also viel früher datierten Englischen Suiten sind Bachs harmonische Einfälle und Wendungen gleichermaßen überraschend und gewagt wie spannend und effektvoll.

Nicht weniger auffallend sind schließlich die in unseren Ohren so modern klingenden Musettes, wie in der Bourrée I alternativement und der Bourrée II in der Zweiten Suite, der Gavotte I alternativement und hauptsächlich der Gavotte II ou la Musette in der Dritten Suite, sowie vor allem der Gavotte I und II in der Sechsten Suite. Insbesondere die zuletzt genannten Gavotte I und II greifen voraus auf die spätere galante Musik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.

Im Gegensatz zu den Französischen Suiten, die für das intime Klavichord bestimmt zu sein scheinen, wurden die Englischen Suiten zweifelsohne für das Cembalo komponiert. Besonders die festlichen Präludien - wir müssen ab und zu an das berühmte Italienische Konzert denken - sind zu „groß“ angelegt, um auf einem Klavichord zu ihrem Recht zu kommen. Dies gilt sicherlich auch für die rauschend-virtuose Gigue in der Sechsten Suite. Wenn Bach diese Werke tatsächlich in etwa seinem dreißigsten Lebensjahr zu Papier gebracht haben sollte, dann können wir nur erkennen, dass er sich gerade in den Englischen Suiten sehr schnell auf einem Niveau bewegte, auf dem er seine Vorbilder hinter sich ließ.

Oben wurde bereits auf Bachs gekonnte Kunst der Verzierung in diesen Suiten hingewiesen. Wer die Noten beim Zuhören nicht zur Hand hat, wird zum Beispiel beide Doubles, die sich an die Courantes der Ersten Suite anschließen, miteinander vergleichen können. Aber auch die Sarabanden aus der Zweiten, Dritten und Sechsten Suite mit den wunderbaren Umspielungen in den folgenden variierten Versionen, die in der Zweiten und Dritten Suite als Les agréments de la même Sarabande angekündigt werden und in der Sechsten Suite einfach als Double. Viele bereichernde Verzierungen in der Form von Trillern, Vorschlägen, Mordenten und Ähnlichem (Bach hat sie für seinen ältesten Sohn Wilhelm Friedemann sorgfältig in einem Klavierbüchlein aufgeschrieben und ausgearbeitet) machen die oft doch schon sehr komplexe Musik zu einem farbenfrohen, üppigen Barockteppich, der auch auf einem modernen Klavier ganz zu seinem Recht kommt.

Quelle: Leo Samama, 2000 (Übersetzung: „WortWechsel“)


CD 1, Track 11: Suite No. 2 in A minor, BWV 807. I. Prélude


TRACKLIST

Johann Sebastian Bach: English Suites

Glenn Gould, Piano


CD 1 52:00

English Suite No. 1 in A Major, BWV 806

01 I. Prélude 02:45
02 II. Allemande 02:10
03 III. Courante I 01:47
04 IV. Courante II 02:11
05 V. Double I 02:06
06 VI. Double II 01:59
07 VII. Sarabande 04:07
08 VIII. Bourrée I 01:16
09 IX. Bourrée II (with da capo I) 02:14
10 X. Gigue 02:01
(Recording: Eaton's Auditorium, Toronto, Canada, 11/3 + 4/11/1973)

English Suite No. 2 in A minor, BWV 807

11 I. Prélude 04:31
12 II. Allemande 01:34
13 III. Courante 01:12
14 IV. Sarabande - Les agréments de
la même Sarabande 03:03
15 V. Bourrée I 01:26
16 VI. Bourrée II (with da capo I) 02:00
17 VII. Gigue 02:17
(Recording: Eaton's Auditorium, Toronto, Canada, 23/5/1971)

English Suite No. 3 in G minor, BWV 808

18 I. Prélude 02:53
19 II. Allemande 01:44
20 III. Courante 01:20
21 IV. Sarabande - Les agrements de
la même Sarabande 03:19
22 V. Gavotte I 00:50
23 VI. Gavotte II (ou la Musette)
(with da capo I) 01:10
24 VII. Gigue 01:52
(Recording: Eaton's Auditorium, Toronto, Canada, 21 + 22/6/1974)


CD 2 59:46

English Suite No. 4 in F Major, BWV 809

01 I. Prélude 04:25
02 II. Allemande 02:46
03 III. Courante 00:54
04 IV. Sarabande 03:01
05 V. Menuett I 01:20
06 VI. Menuett II (with da capo I) 01:57
07 VII. Gigue 02:15
(Recording: Eaton's Auditorium, Toronto, Canada, 14 + 15/12/1974; 23 + 24/5/1976)

English Suite No. 5 in E minor, BWV 810

08 I. Prélude 04:43
09 II. Allemande 02:58
10 III. Courante 01:51
11 IV. Sarabande 01:59
12 V. Passepied I (en Rondeau) 01:06
13 VI. Passepied II (with da capo I) 01:37
14 VII. Gigue 02:04
(Recording: Eaton's Auditorium, Toronto, Canada, 14 + 15/12/1974; 23 + 24/5/1976)

English Suite No. 6 in D minor, BWV 811

15 I. Prélude 08:25
16 II. Allemande 03:11
17 III. Courante 02:46
18 IV. Sarabande 03:07
19 V. Double 02:15
20 VI. Gavotte I 01:34
21 VII. Gavotte II (with da capo I) 02:19
22 VIII. Gigue 02:56
(Recording: Eaton's Auditorium, Toronto, Canada, 10 + 11/10/1975; 23 + 24/5/1976)

Glenn Gould Anniversary Edition
(C) + (P) 2002

CD 2, Track 22: Suite No. 6 in D minor, BWV 811. VIII. Gigue



Bin ich links?


Das politische Spektrum


Bin ich links? Ich habe es nie herausgefunden. Mir ist das unangenehm, weil die Zuordnung wichtig zu sein scheint; sie gilt als Teil der persönlichen Identität. Nicht zuletzt suggeriert sie, dass meine politischen Meinungen auf einer wohlumrissenen Fundamentalüberzeugung beruhen.

Die Amsterdamer Universität entwickelte zur letzten Bundestagswahl einen Test, in dem man seine politischen Positionen auf ihre Passung zu Parteien testen konnte. Das Ergebnis war in meinem Fall ein großer Kreis, in dem sich fast alle deutschen Parteien fanden; die Software erklärte lapidar, ein so großer Kreis bedeute, dass meine politischen Positionen nicht kohärent seien. Aha, dachte ich mir, also sind die Parteiprogramme tatsächlich im Sinne der Amsterdamer Wissenschaft kohärent, und ich kann diese Kohärenz bloß nicht erkennen?

Vermutlich bin ich von einer pathologischen Sehstörung betroffen. Denn andere wissen, ob sie links sind. Vielen ist klar, dass das grüne Wahlprogramm links ist. Mir scheint das seltsam. Leider erklären die Amsterdamer Forscher nicht, was links ist und welche semantische oder logische Struktur die Parteiprogramme im Innersten zusammenhält. Auch Wikipedia und Wörterbücher erhellen wenig. Immerhin erfährt man in Streitschriften der (vermutlich linken) Rosa-Luxemburg-Stiftung, dass es gerade für die Linke immer wieder ein Problem ist, genau zu sagen, was links ist.

Ein guter Ausgangspunkt für die Analyse sind sicher nicht die politischen Entscheidungen und Wahlprogramme der Parteien. Die britische Labour Party und die deutsche SPD beschlossen eine immense Deregulierung der Finanzmärkte - aber linke Politik sollte, so heißt es doch immer, mehr Staat fördern und fordern? Die FDP steht für Freiheit, sofern die Freiheit anderer nicht beeinträchtigt wird - im Europawahlkampf trat aber nur die FDP gegen das Rauchverbot in Gaststätten ein, obwohl ausgerechnet hier doch die Freiheit der einen massiv leidet, wenn die anderen rauchen. Die CDU soll rechts und konservativ sein, also irgendetwas bewahren - aber kaum eine Partei vollführt so oft so radikale Richtungswechsel und baut ständig alles um. Die Grünen sind ein unerschöpfliches Rätsel. Denn sie haben ein ausdrücklich konservatives Credo: »Natur bewahren!« Es ist schwierig, den Unterschied zur CDU zu finden. Auf eine kurze Gleichung gebracht, sind für die CDU Eheverträge und für die Grünen der Christopher Street Day ein Produkt der Natur. Mir sind die Grünen hier sicherlich sympathischer, aber die Natur ist für beide schlicht politische Verhandlungsmasse.

Versuche, das politische Spektrum zu analysieren, gibt es zahlreiche. Ich muss nicht bei null anfangen. Der Einfachheit halber stelle ich mich zu Beginn sofort auf den Standpunkt, dass wir ein Dreieck haben: »links«, »rechts« und »liberal«. (Für einige Linke sind Rechte und Liberale nicht zu unterscheiden.) Es gibt zwei Grundtheorien. Die einen sagen, dass die drei Ecken für jeweils eine bestimmte (konsistente) politische Ideologie stehen; die anderen meinen, dass sie psychologische Dispositionen bezeichnen. Ich will bereits verraten, was das Ergebnis meiner Überlegungen ist. Mir scheinen nämlich beide etablierten Beschreibungen ungeeignet. Meine These lautet kurz: Die drei Positionen im politischen Dreieck sind weder politisch-ideologisch noch individuell-psychologisch, sondern sie bezeichnen eine psychosoziale Grundannahme. Konkret: Die drei Positionen sagen, was jemand darüber denkt, wie Menschen sich zueinander verhalten, wenn sie von sich aus Gruppen bilden.

Politische Ideologie

Ich beginne kurz mit der politischen Ideologie. Dieser zufolge ist die Rechte »konservativ«. Aber was hieße das? Wenn die französische Rechte des 19. Jahrhunderts die Wiederherstellung der Monarchie fordert, bewahrt sie nicht, sondern stürzt um. Wenn die frisch gegründeten amerikanischen Republikaner (schließlich unter Abraham Lincoln) gegen die Sklaverei ins Feld ziehen, bricht der Sezessionskrieg aus, der eine der wichtigsten Zäsuren in der Geschichte der Vereinigten Staaten werden sollte. Ja, man will grundlegende Werte wahren und schützen. Aber was grundlegende Werte sind, kann sich für die Rechte jeden Tag ändern.

Die Linke verlangt die Herstellung von Gleichheit. So betont sie gerne selbst. Die Konsequenz aus diesem Anliegen ist, dass sie zunächst Gruppen identifizieren muss, die (noch) ungleich sind. Beispielweise die Arbeiterklasse. Oder die Bäuerinnen mit Migrationshintergrund. Im Zuge der vielfältigen Maßnahmen zur Herstellung von Gleichheit wird aber die Ungleichheit nie beseitigt. Meist wird, wie das historische Beispiel lehrt, der zuvor unterdrückten Gruppe nicht nur Bevorzugung gewährt, sondern man lässt die Gruppe leiden, die man für privilegiert hält. Ob man der Arbeiterklasse oder der Bourgeoisie angehört, kann man sich in diesem Modell so wenig aussuchen wie die eigene Hautfarbe: Man bleibt, was man ist, und man muss mit den Konsequenzen leben. Welche Gruppe welche Vorzüge und welche Nachteile genießen darf, entscheiden allein die Funktionäre der Linken. Wer unterdrückt ist, bestimmen nicht die Unterdrückten, sondern allein die Partei. Dass sich aus solch perfekter Kontingenz der Kriterien für Benachteiligung kein konsistentes politisches Programm herleiten lässt, leuchtet ohne weiteres Nachdenken ein.

Die Liberalen feiern die Freiheit. Sie sagen zwar, dass die Freiheit des Einzelnen dort ende, wo die Freiheit eines Anderen berührt sei. So ist Freiheit nie grenzenlos. Das scheint fürs Erste reflektiert. Das Problem aber ist, dass aus der Aussage, dass jeder machen könne, was er wolle, keinerlei politisches Programm folgt. Wenn alle Leute die staatlich gelenkte Planwirtschaft wollen, wieso sollten sie nicht die Freiheit besitzen, genau das als Ideal zu verwirklichen? Umgekehrt lässt sich zwar historisch gut beschreiben, weshalb heutige liberale Parteien sich für den Kapitalismus einsetzen; aber logisch zwingend ist es nicht. Ja, immer dann, wenn aus Freiheit ein konkretes politisches Programm wird, können Liberale nicht erklären, wieso die von ihnen akruell propagierte Freiheit nun die »eigentliche« ist.

Diese drei Selbstbeschreibungen befriedigen nicht. Denn sie dienen nicht dazu, politische Konflikte zu entscheiden. Ob die Renten für Mütter steigen sollen oder nicht, lässt sich nicht über solche Leerformeln bestimmen. Will man die Rechte für Mütter bewahren? Will man Mütter endlich gleich behandeln? Will man die Freiheit der Mütter stärken, die sich endlich ohne Druck für Kinder entscheiden können? Die Antworten darauf werden nicht von den Ideologien programmiert. Man kann mit Niklas Luhmann von »Kontingenzformeln« sprechen. Ihr wichtigster Zweck ist die Selbstbindung der Gruppenmitglieder. Einen nach außen gerichteten operativen Wert haben die Formeln indessen nicht.

Psychologie

Wenn die Ideologie nicht recht hilft, kann man die drei Ecken des politischen Dreiecks vielleicht psychologisch deuten. Auch dazu gibt es viele Versuche, aber sie fokussieren meist nur den Gegensatz zwischen »links« und »rechts«. Demnach ist ein linker Mensch antiautoritär und revolutionär veranlagt; er hinterfragt die Herrschaftsverhältnisse und kämpft gegen die Mächtigen, die zu Unrecht Macht haben. Der rechte Charakrer dagegen unterwirft sich mit Begeisterung seinem Führer und kann ohnehin nicht anders denn zu gehorchen.

Ganz durchgesetzt haben sich diese psychologischen Erklärungsmuster nie. Denn sie definieren Stereotype, die im Einzelfall kaum zutreffen und außerdem faktisch einen Ideallinken konstruieren. Vor allem aber lassen sie sich nicht auf die tatsächlichen politischen Verhaltensweisen abbilden. Ja, die Linke propagiert die Revolution. Aber nur, solange sich die Revolution nicht gegen sie selbst richtet. Lenin hat in der Idee des Berufsrevolutionärs diesen scheinbaren Widerspruch dialektisch gelöst. Wenn die Linke an der Macht ist, wird Gehorsam verlangt und geleistet. Ja, die Rechte kratzt ungern am Bild des Staatschefs, der Nation und all dieser wunderschönen Erfindungen. Doch sind die konservativen Revolutionäre ja nicht wirklich die Ausnahme - denken wir noch einmal an Lincoln, denken wir an Charles de Gaulle. Der Witz ist, dass Linke selbst dann, wenn sie die absolute Erstarrung dekretieren, sich als Revolutionäre inszenieren (Fidel Castro), und dass Rechte auch dann noch Wert auf ihre Prinzipienfestigkeit legen, wenn sie alles umstürzen (Adolf Hitler).

Spektrum menschlicher Beziehungen

Der Charme der psychologischen Beschreibung liegt darin, dass sie uns nahebringt, warum Menschen sich selbst als »links« bezeichnen - und nicht nur ihre Positionen. Und ganz ohne ideologischen Unterbau kann man die drei politischen Ecken auch nicht beschreiben, denn in vielen konkreten historischen Situationen ist es leicht zu sagen, was »links« sein müsste. Vielleicht wird in der Verbindung beider Ansätze klarer, was dieses Dreieck beschreibt.

Meine Vermutung ist, dass die drei Ecken Haltungen dazu bezeichnen, wie sich die Selbstorganisation der Gesellschaft vollzieht. Jede der Grundhaltungen entspricht einer wohlumrissenen Annahme darüber, welche gesellschaftliche Ordnung unweigerlich den politischen Prozessen zugrunde liegt. Da es sich um fundamentale Überzeugungen über die Ordnung selbst handelt, sind die Grundhaltungen auch nicht verhandelbar. Und weil sie die Grundlage der Ordnungsprozesse selbst betrifft, bilden die Menschen gleicher Grundhaltung leicht ein »politisches Milieu«: Wenn man eine gemeinsame Ursprache hat, auf deren Grundlage sich überhaupt über Optionen einer Politik sprechen lässt, versteht man sich, selbst wenn über konkrete Ziele, Werte oder Mittel Uneinigkeit herrscht.

Die linke Grundhaltung besteht im Glauben daran, dass die Gesellschaft (als Gemeinschaft) zusammengehört. Die Ebene ist gleichgültig: Das Gemeinschaftsgefühl kann sich unter allen Menschen, unter allen Volksangehörigen und unter allen Kiezbewohnern einstellen. Das ist in etwa das, was die Linke unter »Solidarität« versteht, ein Schlüsselwort linken Denkens, das für die anderen beiden Grundhaltungen immer völlig opak bleibt. Gruppen sind für die Linke immer abstrakt, insofern ihre Mitglieder durch bestimmte Kennzeichen definiert sind: Arbeiter, Schwule und Frauen.

Da die Gemeinschaft selbst im Vordergrund steht, können die Annahmen über die Organisation innerhalb der Gemeinschaft divergieren. So ist für die linke Grundhaltung der charismatische Führer möglich; genauso kann man aber auch auf anarchistische Strukturen setzen. Wenn man aber ein Oberhaupt akzeptiert, dann muss dieses Oberhaupt die Macht erkämpft haben. Denn als links kann nicht gelten, dass jemand »von Natur aus« zum Führen berechtigt ist. Innerhalb der Gemeinschaft sind zunächst nämlich alle insofern gleich, als sie derselben Gemeinschaft und Gruppe angehören. Deswegen sind linke Führer oft charismatisch. Sie müssen ihre eigene Gemeinschaft dazu bewegen können, in ihnen sowohl den Inbegriff der Gruppenidentität zu sehen als auch jemanden, der jenseits der Gruppenidentität herausragt. Darin steckt ein operatives Problem, das letztlich begründet, warum sich Linke so ostentativ mit Gleichheit und Gerechtigkeit befassen. Ich komme darauf zurück. Die paradoxe Anforderung an die Führung ist außerdem offenkundig der Grund dafür, dass die Linke so oft grandiose Politiker hervorbringt, die sie selbst nach kurzer Zeit brutal wieder absägt.

Die Linke hat daher einen starken Hang zum globalen und grundsätzlichen Denken: Es geht um den Menschen an und für sich, die Grundrechte, absolute Ungerechtigkeiten und so weiter. Die Linke übersieht lokale Bindungen, hält Pflichten zwischen Einzelpersonen (also Verträge) für irrelevant und sucht die Meinungsbildung in der großen Masse. Das macht auch die Grausamkeit des Umgangs zwischen linken Politikern aus: Man kann jede Absprache mit einem Genossen für die gute Sache opfern; ein Ehrenwort gilt als Machttechnik der Rechten und als in sich schon korrupt. Mithin heißt das auch, dass die Linke kein Vertrauen hat - weder in die Leute in den eigenen Reihen noch letztlich in die Bevölkerung, die allzu oft irrt und sich gegen sinnvolle Politik entscheidet. Links zu sein bedeutet: Ständig gegen die Irrtümer der anderen zu kämpfen - und bereit zu sein, die eigenen Irrtümer anzuerkennen, wenn man unter der Guillotine liegt, die die anderen Linken aufgestellt haben. Stalin ist bis zum letzten Atemzug links geblieben. Ob man als Märtyrer oder Häretiker stirbt, entscheidet sich ausschließlich danach, welche politische Gruppierung den Henker bestellt hat. Deswegen sind intellektuell oder gar professoral veranlagte Menschen auch oft links; hier darf man gegen die Irrtümer der anderen kämpfen, ohne dass man gegen die Meinungen anderer antreten muss. Und so kann sich der Marxismus gar als wissenschaftlich verstehen.

Die rechte Grundhaltung vertraut darauf, dass jeder seinen Ort in der Gesellschaft hat und ihn ausfüllen sollte. Der Ort kann auch eine »Führungsposition« sein. Die Rechte glaubt mithin an die Existenz natürlicher Eliten. Hier trifft Norberto Bobbio (in seinem Buch Rechts und Links von 1994) ins Schwarze, wenn er der Rechten ein Denken in Hierarchien vorwirft; aber aus Sicht der Rechten sind die Menschen am unteren Ende der Hierarchie eben auch am richtigen Platz; und vor allem sind sie besonders glücklich, wenn sie dort bleiben. Die Hierarchie drückt nicht aus, dass ein einzelner Mensch besser oder schlechter ist. Diese Unterscheidung versteht die Rechte nur bei moralischen Verfehlungen; in der Politik ist der Führer genauso »gut« wie der kleine Mann in der Fabrik.

Der Ort in der Gesellschaft ist vor allem durch bestimmte Bindungen an andere, nahestehende Menschen angezeigt. Es. gibt also keine Verbindung unter allen Menschen. Sondern in der rechten Grundhaltung sind meist Gruppen in dem Sinne konkret, dass sich die Mitglieder namentlich aufzählen ließen: die Gemeindemitglieder, die Kollegen in der Abteilung und die Familienangehörigen. Weil diese Bande einerseits als natürlich angesehen werden, andererseits aber faktisch verletzlich sind, verteidigt sie die Rechte mit aller Nachdrücklichkeit. An Solidarität glaubt sie nicht, nur an das Einstehen derjenigen, die einem tatsächlich durch die Bande verpflichtet sind.

Die Rechte ist selten konservativ in dem Sinne, dass sie tatsächlich etwas bewahren will oder an Traditionen wirklich hängt. Sie geht eher von einer vorgängigen sozialen Ordnung aus, die in jedem Moment aber gestört erscheint; die Rechte möchte die Balance wiederherstellen. Als Symbol für diese Ordnung taugen ganz unterschiedliche Ideen. Gott ist besonders beliebt, weil er die Natürlichkeit der Ordnung garantiert, am Ende der Zeiten die linken Chaoten bestrafen wird und außerdem der elitäre Führer schlechthin ist; aus diesem Grunde sind rechte Parteien in Europa oft auch christliche. Andere Symbole sind jedoch denkbar; der Nationalsozialismus hat die Genetik an die Stelle Gottes gesetzt (sie ist natürlich, selektiert die Schwachen aus und garantiert die Führung der biologisch Starken). Was die Rechte bewahren will, ist Ordnung, aber eine wirklich ordentliche Ordnung hat nie bestanden. Das Festhalten an Traditionen ist nur das Festhalten an den zarten Spuren solcher Ordnung. Kommt ein massives neues Ordnungsversprechen, werden Traditionen gerne auch von Anhängern der Rechten sofort und rückstandslos entsorgt. Diese Bereitschaft hat der Nationalsozialismus erbarmungslos ausgenutzt. Erst als sich zeigte, dass gerade er zu Chaos führte, regte sich auch konservativer Widerstand gegen das Regime.

Der Liberalismus ist eine Grundhalrung, die von radikaler Lokalität in der Gesellschaft ausgeht: Es zählen nur die konkreten Bindungen, die ein Individuum mit anderen Individuen eingeht. Deswegen sind Verträge so wichtig im liberalen Denken; deswegen ist Privatautonomie ein so hohes Gut. Das heißt auch, dass für Liberale Solidarität eine völlig unverständliche Idee ist: Wieso sollte man sich mit wildfremden Menschen verbunden fühlen? Und überhaupt: Was meint Solidarisieren? Liberale rätseln bei diesen Fragen und finden keine Antwort. Verträge müssen ausgehandelt werden. So steht für die liberale Grundhaltung das Aushandeln im Mittelpunkt aller gesellschaftlichen Prozesse. Ein Vertrag wird geschlossen, wenn alle Parteien Vorteile im Abschluss sehen. Damit glaubt der Liberalismus an Win-Win-Situation und Wertschöpfung. Er ist nicht an Gewinnmaximierung interessiert, wie seine Gegner insinuieren, sondern geht davon aus, dass immer gemeinsamer Gewinn möglich und erreichbar ist. Deswegen vertrauen Liberale auch immer auf Wirtschaftswachstum und sorgen sich nicht sehr um Ressourcen; aus ihrer Sicht kann niemand so verrückt sein, notwendige endliche Ressourcen unwiederbringlich aufzubrauchen, und deswegen kann das auch aktuell nicht passieren. Der Grundgedanke zeugt von Vertrauen in den einzelnen Menschen.

Weil alle Bindungen auszuhandeln sind, hadern Liberale immer mit Führungen und Eliten. Sie halten sie für kontingente Nebeneffekte von Abstimmungsprozessen. Innerhalb des Liberalismus ist die Strömung des Anarchismus stark. Sie fordert die Abschaffung jeder Form der (politischen) Macht einzelner über andere. In der politischen Theorie ist der Liberalismus daher immer für die Beschränkung der Macht von Amtsträgern gewesen; die Idee von checks and balances ist zutiefst liberal, verlangt sie doch ein Aushandeln sogar zwischen den Staatsorganen. Die lokale Sicht auf Gesellschaft führt jedoch auch zu einer starken Indifferenz gegenüber nichtpolitischen Eliten - ganz zu schweigen von denen, die der Elite gar nicht angehören. Aus liberaler Sicht kann ein einzelner Unternehmer Milliarden verdienen, ohne dass das »ungerecht« wäre. Wieso sollte man Menschen davon abhalten, einer Einzelperson Geld zu geben, wenn sie das wollen? Doch diese Haltung speist sich nicht aus der Idee von Freiheit, sondern aus dem Fehlen einer globalen Perspektive.

Mit Blick auf staatliche Steuerung ist der Liberalismus den beiden anderen Haltungen völlig entgegengesetzt. Regulierungen und Gesetze sind nämlich aus liberaler Perspektive nur dann willkommen, wenn sie als Spielregeln dienen, die die lokalen Vereinbarungen der Individuen erleichtern. Da jedoch die Gesamtgesellschaft aus liberaler Sicht nur ein fiktives Konstrukt ist, unberechenbar und unbeobachtbar, mag sie Regulierungen nicht, die darauf abzielen, die Gesellschaft zu formen. Umgekehrt steuern die Linke und die Rechte gerne die Gesellschaft: die Linke, um die Gesellschaft endlich zur Gemeinschaft zu machen, und die Rechte, um der Gesellschaft wieder die Ordnung aufzuzwingen, deren Fehlen zu beklagen ist. (Aus der jeweiligen Binnenperspektive liest es sich freilich anders: Die Linke will den Mitgliedern der Gemeinschaft dabei helfen, die natürliche Solidarität untereinander auszubilden und sich zu »emanzipieren«, und die Rechte erleichtert den Menschen die Rückkehr zur ersehnten und lange vermissten Ordnung.) Da beide Anliegen im politischen Alltagsgeschäft schwer auseinanderzuhalten sind, neigen Links-Rechts-Koalitionen zu umfangreichen Regulierungen, die in die letzte Ecke des Schlafzimmers kriechen.

Liberale Regierungen hingegen haben kein klares Programm. Dass eine Regierungsbeteiiigung von Liberalen so blass bleibt, liegt in ihrer Grundhaltung begründet. Liberale denken nämlich, dass man die Spielregeln festlegen kann, ohne den Ausgang des Spiels zu beeinflussen. Sie glauben an natürliche Gleichgewichte, die man im Interesse aller Menschen nicht stören sollte (der "freie Markt« ist eines solcher Gleichgewichte). Wenn Liberale naiv auf die Abstraktion von Regeln und Resultaten vertrauen, dann lassen sie sich von gewieften Linken oder Rechten übertölpeln, die in den detaillierten, kleingedruckten Ausführungsbestimmungen ihre konkreten Ziele durchsetzen. Und wenn vereinzelte Liberale doch um die Unmöglichkeit der Abstraktion wissen, können sie sich ebenfalls nicht politisch durchsetzen. Denn politische »Inhalte« gibt es im Liberalismus nicht. Und so gibt es auch kein Ziel, auf das Liberale sich untereinander einigen könnten. Und so bleibt eine liberale Regierungsbeteiligung meist ohne spürbare Folgen.

Die Krux mit dem Wettbewerb

Die Kontingenzformeln »Gleichheit«, »Freiheit« und »Werte« mögen keine realpolitischen Konsequenzen zeitigen. Doch sie alle zielen in ein semantisches und politisches Feld, in dem es sehr handfest wird: nämlich auf die Frage, wer kämpfen darf oder muss, wer bestimmt, wer im Kampf stärker und wer schwächer ist, nach welchen Regeln Kämpfe auszutragen sind, wo der Kampf verboten ist und wer ein solches Verbot durchsetzt. Der Kampf kann viele Gestalten haben: der »Klassenkampf«, der »Wettbewerb« in der Wirtschaft, der politische Kampf um Stimmen und der tägliche Kampf des Einzelnen ums Überleben.

Die Linke ist, wie ich kurz angedeutet habe, vom Gedanken an Wettbewerb besessen. Sie liebt und hasst ihn zugleich. Und sie sieht ihn überall. Sie liebt ihn, weil sie daran glaubt, dass sich die Besseren gegen die Schlechteren durchsetzen werden. Denn nur auf der Achse gut / schlecht legitimiert sich Führung. Dabei setzt sich als der Bessere durch, wer besser argumentiert, die besseren ethischen Positionen vertritt - oder körperlich der Stärkere ist. Die Geschichte der Linken ist daher geprägt von einer eigentümlichen Liebe zum Sport und zum athletischen Wettkampf; ähnlich schätzt sie die agonale Debattenkultur, die Verlierer und Sieger kennt. Führen darf nur, wer sich gegen alle Widerstände durchsetzt. Sie kennt die Opfer dieses Kampfes in ihren eigenen Reihen und bewahrt die Erinnerung an die Märtyrer; Leo Trotzki ist eine der leicht erhältlichen Heiligenfiguren.

Zugleich hasst die Linke deshalb den Wettbewerb in der kapitalistischen Wirtschaft. Sie geht davon aus, dass der kleine Arbeiter als das schwächste Glied in der Kette »verliert«; sie vermutet, dass es dereinst den großen Sieger gibt, den einen internationalen Konzern, der alles beherrscht und den kapitalistischen Wettkampf am Ende der Zeiten besteht. Dagegen wendet sie sich mit aller Gewalt. Wettbewerb ist aus linker Sicht ein guter und nötiger gesellschaftlicher Zeitvertreib für die Elite, der sich die linken Aktivisten und Politiker selbst zurechnen. Aber diese Elite bestimmt sich aus dem Sieg im Kampf, nicht aus einer höheren Ordnung.

Diejenigen, die den beständigen Kampf um die Führung nicht bestehen können, genießen daher das uneingeschränkte Schutzversprechen der Linken. Sie kämpft dafür, dass nicht alle kämpfen müssen. Dieses Versprechen verbirgt sich hinter der Leerformel von der Gleichheit. Weil die Linke überall Krieg und Opfer sieht, verfolgt sie das politische Ziel, den ständigen Kampf zu beenden oder so viele wie möglich davon zu verschonen. Weil die Linke das Kämpfen selbst nicht lassen kann und weil man schon in jeder kleinsten wirtschaftlichen Transaktion böse Mächte wittert, versucht man, die eigene Fixierung auf den Wettbewerb zu externalisieren. In einer faszinierenden Verkehrung der tatsächlichen Kausalitäten (bestes Beispiel: der Klassenkampf) geht die Linke davon aus, dass die Ungerechtigkeiten die Ursache für Kämpfe sind. Dass die Massen in Wahrheit immer wieder alles an Ungemach und Grausamkeit duldsam hinnehmen, kann sich die Linke nie erklären. Das politische Ziel der Gleichheit verdeckt den eigentlichen Wunsch: die eigene obsessive Kampflust nicht sich selbst anlasten zu müssen.

Die Rechte empfindet Wettbewerb immer als Störung. Sie arrangiert sich mit dem Wirtschaftsliberalismus nur insoweit, als sie anerkennt, dass der Wettbewerb die Ordnung der Gesellschaft aufrechterhält. Aber eine tiefe Sympathie für Markt und Wettbewerb besitzt die Rechte nicht. Manche der US- und kapitalismuskritischen Slogans des Nationalsozialismus könnten heute im Parteiprogramm der Linkspartei stehen, ohne dass es jemandem auffiele. Ganz im Gegenteil favorisiert die Rechte die bedingungslose Anerkennung dessen, wovon man wissen soll, dass es gut ist und daher auch gut bleibt. Man kauft das bewährte Produkt, man wählt die bewährte Kanzlerin, man streicht das Haus in der bewährten Farbe an. Im Sport soll die eigene Mannschaft siegen; die Bande sind fest. Der sportliche Wettkampf ist dezidiert Freizeitunterhaltung, ein wenig zugelassener Wettbewerb in den engen Grenzen des Fernsehbildschirms, den man auch wieder ausschalten kann.

In der Geschichte der Rechten sind die Sympathien für parlamentarische politische Systeme dementsprechend lange gering ausgeprägt gewesen: Wieso soll der Fürst nicht einfach durchsetzen können, was richtig ist? Und wozu dieses Gerede und Geschrei? Erst als die Rechte im Laufe des letzten Jahrhunderts merkte, dass Parlamente Revolutionen verhindern, den Wettbewerb um die besten Ideen ins Klein-Klein der Ausschussarbeit verlagern und Veränderungen arg verlangsamen, hat sie ihren lieben Frieden mit diesen merkwürdigen Debattierklubs gemacht. Leidenschaftliche Parlamentarier sind in Europa in der Rechten natürlich trotzdem selten geblieben. Dem Wettbewerb weicht die Rechte auf diese Weise aus.

Für den Liberalismus existiert zunächst Kooperation. Er geht davon aus, dass Menschen miteinander Verträge schließen, damit alle Parteien davon Vorteile haben. Das heißt, die liberale Grundhaltung vermutet, dass sich im Kleinen immer Zusammenarbeit anbietet - und Wettbewerb ausbleibt. Umgekehrt mutmaßt der Liberalismus, dass - wieder im Kleinen und lokal - jeder denjenigen Partner sucht, der ihm die meisten Vorteile bietet. Auf diese Art entsteht Wettbewerb im Wirtschaftsleben, der aus Sicht der Liberalen immer nur lokal entschieden wird, und das heißt am Ende immer: vom Kunden. Wettbewerb hat so für Liberale wenig mit Wirtschaft zu tun; und vor allem ist Wettbewerb immer eher ein freundliches Balgen unter Gleichgesinnten. Die Angst vor Wettbewerb kann der Liberalismus daher kaum nachvollziehen. Es ist der kleine Mann, der Arbeiter, die Familie am Existenzminimum, die aus liberaler Sicht vom Wettbewerb am meisten profitieren. Wer unter ihm leidet, sind die Unternehmer, die ihre Existenz für die Gesellschaft riskieren und daher einen besonderen Schutz verdienen. Deswegen propagieren liberale Parteien gewöhnlich Unterstützung für den Mittelstand; hier sehen sie die Garantien für eine gerechte Gesellschaft; hier sehen sie das große existenzielle Risiko. Tatsächlich assoziiert der Liberalismus den Wettbewerb vor allem mit der Wirtschaft; denn »Wettbewerb« ist für ihn ein Terminus technicus der Ökonomie und weckt bei Liberalen keine Assoziationen mit Kampf oder Verlust.

Jede Grundhaltung hat ihre Blindstellen; und sie verteidigt diese bis aufs Äußerste, denn sonst müsste sie sich in Frage stellen. Die Linke muss ständig leugnen, dass sie die große Mehrheit der Gesellschaft infantilisiert und als betreuungsbedürftig ansieht; sie muss vor sich selbst verbergen, dass gerade sie es ist, die den ständigen Wettbewerb aller gegen alle propagiert. Die Rechte will nicht einsehen, dass sie, indem sie den täglichen Kampf schlicht leugnet, gerade die kleinen Leute, die ihn bestehen müssen, immer wieder ans Messer liefert. Der Liberalismus schließlich muss völlig ausblenden, dass der Wettbewerb in der Wirtschaft den kleinen Arbeiter und den Arbeitslosen niederreißt; denn der Arbeitsmarkt kennt keine gleiche Verhandlungsstärke der Vertragspartner. Man sieht das immer wieder daran, dass Liberale den besonderen Schutz von Arbeitnehmern und von Mietern für bedenklich und störend halten; für sie ist einfach undenkbar, dass jemand einen Arbeits- oder Mietvertrag unterschriebe, von dem er nicht selbst profitiert. Ohnehin muss der Liberalismus die Fähigkeit des einzelnen Individuums idealisieren, sich über die idealen Vertragspartner zu informieren. Dass er die effektive Macht großer Konzerne und reicher Lobbyisten übersehen muss, ist eine der lästigsten Konsequenzen.

Die Qual der Wahl

Wenn jemand im politischen Dreieck zu verorten ist, artikuliert er politische Positionen. Das heißt, dass es kein Zufall ist, dass ich eher über liberale, rechte und linke Politiker spreche als über die Anhänger- und Wählerschaft von Parteien. Dennoch bezieht sich das Dreieck nicht allein auf eine »Elite«, sondern auf alle, die politische Ideen im Rahmen des Dreiecks artikulieren - ob nun am Stammtisch, in den öffentlichen Medien oder als Parteimitglied.

Weil die drei politischen Grundhaltungen kein Wahlprogramm und erst recht keine konkrete Politik diktieren, entstehen in Parteien alle paar Jahre frische Ideen und Vorhaben. Neue Gesichter erscheinen auf Webseiten und im Fernsehen. Aktuelle Herausforderungen verlangen eine neue Agenda. Wenn sich in den Grundhaltungen lediglich Annahmen zur Selbstorganisation der Gesellschaft entfalten, so bleiben sie hinreichend abstrakt, dass man sie am Wahltag ignorieren kann. Dann gibt man seine Stimme den besseren Vorhaben oder den überzeugenderen Politikern. Die programmatische Diffusität der drei Gtundhaltungen garantiert die Anpassungsfähigkeit der Parteien; und sie stellt zugleich sicher, dass nie alle Parteien dieselben Inhalte propagieren werden.

Und für all diejenigen, die nur schwache oder sogar überhaupt keine Annahmen zur Selbstorganisation haben, bedeutet das, dass sie sich ohnehin jedes Mal ganz neu entscheiden müssen. Das politische Spektrum hat somit gar nicht den Zweck, für programmatische Kohärenz zu sorgen. Sondern es ermöglicht in Demokratien die Ausbildung halbwegs stabiler Organisationen - nämlich der Parteien -, die ein kontingentes politisches Programm zumindest für den Moment fixieren. Ohne das Spektrum gäbe es schließlich keine richtigen Parteien, sondern nur Klientelverbände wie die Tierschutzpartei und ansonsten nur Einzelpersonen, die man in Ämter wählen könnte. Und zwischen Einzelkandidaten zu wählen, brächte kein Mehr an Schlüssigkeit. Welches Individuum hat schon völlig kohärente politische Auffassungen? Und überhaupt: Wem würde mehr Kohärenz in der Politik eigentlich nützen?

Quelle: Remigius Bunia: Bin ich links? Das politische Spektrum. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 68. Jahrgang, August 2014, Heft 783, Seite 678-687

REMIGIUS BUNIA, geb. 1977, Juniorprofessor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin. 2013 ist Romantischer Rationalismus. Zu Wissenschaft, Politik und Religion bei Novalis erschienen.

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Wieso sollte ich den anderen nicht auch empfehlen! Ich finde schließlich beide großartig.

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