Johann Sebastian Bach: Sechs Motetten BWV 225-230

Als Johann Sebastian Bach am 28. Juli 1750 in Leipzig verschied, fand seine zweite Frau Anna Magdalena die schönsten Worte, die jemals einem Musiker zuteil wurden:

"Solche Musik war nicht in der Welt, bevor er sie schuf". Bachs Genie war unermeßlich, aber nicht maßlos: Sein Wesen und Werk ruhten in der Sicherheit eines unerschütterlichen Glaubens. Sein unstillbarer Musikhunger ließ ihn aufhorchen bei allem, was ihm an Stilen und Formen aus den vier Himmelsrichtungen zufloß. Auf dem Notenpapier fand es dann lebendige Gestalt, ohne daß Bach sich je einem Stil verschrieben hätte.

Nur sechs Motetten hat Bach komponiert, und so mutet es verwunderlich an, daß er, der als Vollender alter kirchenmusikalischer Traditionen gilt, sich so zurückhaltend gegenüber dieser zentralen Gattung der Chormusik verhielt, gehörte sie doch immerhin noch zum festen Bestandteil des Leipziger Gottesdienstes. Im Gottesdienst ließ Bach - wie den Akten der Thomaskirche zu entnehmen ist - Motettenkompositionen älterer Meister singen, seine eigenen Motetten indes sind als Auftragswerke für besondere Gelegenheiten gedacht, drei von ihnen als Trauermusiken für Begräbnisse.

Gleich mit dem ersten Takt von Singet dem Herrn ein neues Lied, das die Worte des 149. und 150. Psalmes vertont, bricht Jubel und ekstatische Begeisterung über den Hörer herein. Hier werden alle klanglichen Möglichkeiten der doppelchörigen Anlage ausgeschöpft. Während die Oberstimmen des ersten Chores der für achtstimmigen Doppelchor gesetzten Motette sich in lang ausgeschmückten Melismen über einen ausgehaltenen Grundton ergehen, ruft es fortwährend "Singet" aus dem zweiten Chor. Ständig verändert sich die Zahl der klingenden Stimmen; mal singt jeder Chor für sich, mal verbinden sich beide, ein anderes Mal singen nur die Unterstimmen gemeinsam. Ebenso brillant erregt wie der erste Teil gibt sich auch der Schlußsatz, dazwischen reiht sich ein ruhiger mittlerer Teil, der von einer Choralmelodie gehalten wird.

Bei der Motette Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf nach den Worten des Römerbriefes sind uns Entstehungszeit und Anlaß überliefert: Die Motette entstand anläßlich der "Beerdigung des seel. Herrn Prof: und/Rectoris Ernesti" im Jahre 1729. Nur der kurze Mittelteil ist erfüllt von der traurigen Stimmung des Anlasses, ansonsten atmet das Werk jene fast frohgemute Zuversicht, in der der christlich-barocke Mensch dem Tod gegenüberstand.

Autograph der Motette
Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf
Die Choralmotette Jesu, meine Freude ist nicht nur die umfangreichste unter allen sechs Motetten, an Gehalt ist sie wohl auch die bedeutendste. In ihr verkörpere sich, wie der Bach-Biograph Philipp Spitta meinte, der Kern des protestantischen Christentums. Bach vertonte alle sechs Strophen des Liedes von Johann Franck, das von der Geborgenheit in Christus und der Wertlosigkeit der Welt spricht. Den einzelnen Strophen fügte er Ausschnitte aus dem Brief Paulus an die Römer bei, in denen der Wandel im Geist dem Wandel im Fleisch gegenübergestellt wird, dessen Quintessenz sich in dem Satz offenbart: "Das Gesetz des Geistes, der da lebendig macht in Christo Jesu, hat mich freigemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes." Formal besteht die Motette aus einer Reihe von Choralvariationen. Die Technik jeder einzelnen Variation ist unterschiedlich und reicht von der einfachen Harmonisierung der Grundmelodie bis zu deren freier Verarbeitung und zur Auflösung ihrer einzelnen thematischen Bestandteile.

Fürchte dich nicht nach den Worten des Propheten Jesaja ist ein heiterer Gesang, der Trost verspricht, was sich schon in seiner lichten Tonart A-Dur mitteilt.

Ganz anders die ergreifende Motette Komm, Jesu, komm BWV 229 - aus ihr spricht die Todessehnsucht und Lebensmüdigkeit, aber auch tiefer Glaube. Der Text stammt vom Paul Tymich, einem 1694 verstorbenen Lehrer der Thomasschule. Durchgehend achtstimmig gesetzt besteht das Werk aus drei ineinander übergehenden Teilen und einer abschließenden "Aria". Im ersten Teil bricht in ein ausdrucksstarkes Lento unvermittelt ein drängendes Fugato ein - das letzte leidenschaftliche Aufbäumen des demütigen Geistes. Ihm folgt eine heiterer Wechselgesang im anmutigen Sechsachteltakt. Die zweite Strophe des Liedes komponierte Bach als vierstimmige "Aria" und hängte sie der Motette wie ein frei erfundenes Chorallied an.

Die vierstimmige Motette Lobet den Herren, alle Heiden nimmt den 117. Psalm zur dichterischen Vorlage. Sie weist keinen Choral auf, was neben anderen Umständen verschiedentlich Zweifel an ihrer Echtheit aufkommen ließ. Gemeinsam mit Komm, Jesu, komm ist ihr die Beschränkung auf einen Chor. Lobet den Herren, alle Heiden ist die einzige Motette, von der uns Begleitstimmen fÜr Orgel, Streicher und Bläser überliefert sind, was allerdings nicht besagt, daß Bach die anderen fünf Motetten nur ausschließlich vokal erdachte. Auch Bach hat seine eigenen Motetten zur Begleitung des Orgel-Continuo und mitgehender Instrumente singen lassen. Dennoch wäre auch eine strenge A-Cappella-Aufführung möglich.

Quelle: Teresa Pieschacón Raphael, im Booklet

TRACKLIST

Johann Sebastian Bach
(1685 - 1750)

Motets

[1] Singet dem Herrn ein neues Lied, BWV 225 (12:21)

[2] Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf, BWV 226 (7:43)

[3] Jesu, meine Freude, BWV 227 (19:52)

[4] Fürchte dich nicht, BWV 228 (7:45)

[5] Komm, Jesu, komm, BWV 229 (8:52)

[6] Lobet den Herrn, alle Heiden, BWV 230 (6:35)

Playing Time: 63:09

The Scholars Baroque Ensemble
(Soloists, Chorus and Ensemble on original instruments)
Artistic Coordinator: David van Asch
soprano: Anna Crookes, Kym Amps
counter tenor: Angus Davidson, David Gould
tenor: Robin Doveton, Julian Podger
bass: Matthew Brook, David van Asch
organ: Terence Charlston
cello: Pal Banda
violin: Jan Spencer

Recorded in Rosslyn Hill Chapel, Hampstead, London
from 5th to 7th February, 1996.
Producer: Judy Lieber and John Taylor - Engineer: John Taylor
Cover Painting: The Nativity by Claesz Aert

(c) + (p) 1997

Aertgen Claesz. van Leyden (um 1498-um 1564): Geburt Christi, Musee du Louvre, Paris

Track 4: Fürchte dich nicht (BWV 228)


Fürchte dich nicht

1.Chor

Fürchte dich nicht, ich bin bei dir;
weiche nicht, denn ich bin dein Gott;
ich stärke dich, ich helfe dir auch,
ich erhalte dich durch
die rechte Hand
meiner Gerechtigkeit
(Isaiah 41:10)

2.Chor

Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöset;
ich habe dich bei deinem Namen gerufen,
du bist mein.
(Isaiah 43:1)

Choral

Herr, mein Hirt, Brunn aller Freuden!
Du bist mein,
ich bin dein,
niemand kann uns scheiden.
Ich bin dein, weil du dein Leben
und dein Blut
mir zugut
in den Tod gegeben.
Du bist mein, weil ich dich fasse
und dich nicht,
o mein Licht,
aus dem Herzen lasse!
Laß mich, laß mich hingelangen,
da du mich
und ich dich
lieblich werd umfangen.
(Paul Gerhardt. 1653)

Fürchte dich nicht, du bist mein.


Ludwig Tieck: Der gestiefelte Kater


PROLOG

Die Szene ist im Parterre, die Lichter sind schon angezündet, die Musiker sind im Orchester versammelt. - Das Schauspiel ist voll, man schwatzt durcheinander, mehr Zuschauer kommen, einige drängen, andre beklagen sich. Die Musiker stimmen.

FISCHER, MÜLLER, SCHLOSSER, BÖTTICHER im Parterre, ebenso auf der andern Seite WIESENER und dessen NACHBAR.

FISCHER: Aber ich bin doch in der Tat neugierig. - Lieber Herr Müller, was sagen Sie zu dem heutigen Stücke?

MÜLLER: Ich hätte mir eher des Himmels Einfall vermutet, als ein solches Stück auf unserm großen Theater zu sehn - auf unserm Nationaltheater! Ei! eil nach allen den Wochenschriften, den kostbaren Kleidungen und den vielen, vielen Ausgaben!

FISCHER: Kennen Sie das Stück schon?

MÜLLER: Nicht im mindesten. - Einen wunderlichen Titel führt es: "Der Gestiefelte Kater". - Ich hoffe doch nimmermehr, daß man die Kinderpossen wird aufs Theater bringen.

SCHLOSSER: Ist es denn vielleicht eine Oper?

FISCHER: Nichts weniger, auf dem Komödienzettel steht: ein "Kindermärchen".

SCHLOSSER: Ein Kindermärchen? Aber ums Himmels willen, sind wir denn Kinder, daß man uns solche Stücke aufführen will? Es wird doch wohl nun und nimmermehr ein ordentlicher Kater aufs Theater kommen?

FISCHER: Wie ich es mir zusammenreime, so ist es eine Nachahmung der "Neuen Arkadier", und es kommt ein verruchter Bösewicht, ein katerartiges Ungeheuer vor, mit dem es fast solche Bewandtnis wie mit dem Tarkaleon hat, nur daß er etwa, statt rot ums Maul, schwärzlich gefärbt ist.

MÜLLER: Das wäre nun nicht übel, denn ich habe schon längst gewünscht, eine solche recht wunderbare Oper einmal ohne Musik zu sehn.

FISCHER: Wie? Ohne Musik? Ohne Musik, Freund, ist dergleichen abgeschmackt, denn ich versichre Sie, Liebster, Bester, nur durch diese himmlische Kunst bringen wir alle die Dummheiten hinunter. Ei was, genau genommen sind wir über Fratzen und Aberglauben weg; die Aufklärung hat ihre Früchte getragen, wie sich's gehört.

MÜLLER: So ist es wohl ein ordentliches Familiengemälde, und nur ein Spaß, gleichsam ein einladender Scherz mit dem Kater, nur eine Veranlassung, wenn ich so sagen darf, oder ein bizarrer Titel, Zuschauer anzulocken.

SCHLOSSER: Wenn ich meine rechte Meinung sagen soll, so halte ich das Ganze für einen Pfiff, Gesinnungen, Winke unter die Leute zu bringen. Ihr werdet sehen, ob ich nicht recht habe. Ein Revolutionsstück, soviel ich begreife, mit abscheulichen Fürsten und Ministern, und dann ein höchst mystischer Mann, der sich mit einer geheimen Gesellschaft tief, tief unten in einem Keller versammelt, wo er als Präsident etwa verlarvt geht, damit ihn der gemeine Haufe für einen Kater hält. Nun da kriegen wir auf jeden Fall tiefsinnige und religiöse Philosophie und Freimaurerei. Endlich fällt er als das Opfer der guten Sache. O du Edler! Freilich mußt du gestiefelt sein, um allen den Schurken die vielen Tritte in den gefühllosen Hintern geben zu können!

FISCHER: Sie haben gewiß die richtige Einsicht, denn sonst würde ja der Geschmack abscheulich vor den Kopf gestoßen. Ich muß wenigstens gestehn, daß ich nie an Hexen oder Gespenster habe glauben können, viel weniger an den gestiefelten Kater.

MÜLER: Es ist das Zeitalter für diese Phantome nicht mehr.

SCHLOSSER: Doch, nach Umständen. Könnte nicht in recht bedrängter Lage ein großer Abgeschiedener unerkannt als Hauskater im Palast wandeln und sich zur rechten Zeit wundertätig zu erkennen geben? Das begreift sich ja mit der Vernunft, wenn es höheren und mystischen Endzwecken dient. - Da kömmt ja Leutner, der wird uns vielleicht mehr sagen können.

LEUTNER drängt sich durch.

LEUTNER: Guten Abend, guten Abend! Nun, wie geht's?

MÜLLER: Sagen Sie uns nur, wie es mit dem heutigen Stücke beschaffen ist.

Die Musik fängt an.

LEUTNER: Schon so spät? Da komm ich ja grade zur rechten Zeit. - Mit dem Stücke? Ich habe soeben den Dichter gesprochen, er ist auf dem Theater und hilft den Kater anziehn.

VIELE STIMMEN: Hilft? - der Dichter? - den Kater? - Also kommt doch ein Kater vor?

LEUTNER: Ja freilich, und er steht ja auch auf dem Zettel.

FiSCHER: Wer spielt ihn denn?

LEUTNER: Je, der fremde Akteur, der große Mann.

BÖTTICHER: Da werden wir einen Göttergenuß haben. Ei, wie doch dieser Genius, der alle Charaktere so innig fühlt und rein nuanciert, dieses Individuum eines Katers herausarbeiten wird! Ohne Zweifel ideal, im Sinne der Alten, nicht unähnlich dem Pygmalion, nur Soccus hier, wie dort Kothurn. Doch sind Stiefeln freilich Kothurne und keine Socken. Ich schwebe noch im Dilemma des Zweifels. - Oh, meine Herren, nur ein wenig Raum für meine Schreibtafel und Bemerkungen.

MÜLLER: Aber wie kann man denn solches Zeug spielen?

LEUTNER: Der Dichter meint, zur Abwechselung -

FISCHER: Eine schöne Abwechselung! Warum nicht auch den Blaubart und Rotkäppchen oder Däumchen? Ei! der vortrefflichen Sujets fürs Drama!

MÜLLER: Wie werden sie aber den Kater anziehn? - Und ob er denn wirkliche Stiefeln trägt?

LEUTNER: Ich bin ebenso begierig wie Sie alle.

FISCHER: Aber wollen wir uns denn wirklich solch Zeug vorspielen lassen? Wir sind zwar aus Neugier hergekommen, aber wir haben doch Geschmack.

MÜLLER: Ich habe große Lust zu pochen.

LEUTNER: Es ist überdies etwas kalt. Ich mache den Anfang.

Er trommelt, die übrigen akkompagnieren.

WIESENER auf der andern Seite: Weswegen wird denn gepocht?

LEUTNER: Den guten Geschmack zu retten.

WIESENER: Nun, da will ich auch nicht der letzte sein. Er trommelt.

STIMMEN: Still! Man kann ja die Musik nicht hören.

Alles trommelt.

SCHLOSSER: Aber man sollte doch das Stück auf jeden Fall erst zu Ende spielen lassen, denn man hat sein Geld ausgegeben, und in der Komödie wollen wir doch einmal sein; aber hernach wollen wir pochen, daß man es vor der Tür hört.

ALLE: Nein, jetzt, jetzt - der Geschmack - die Regeln - die Kunst - alles geht sonst zugrunde.

EIN LAMPENPUTZER erscheint auf dem Theater.

LAMPENPUTZER: Meine Herren, soll man die Wache hereinschicken?

LEUTNER: Wir haben bezahlt, wir machen das Publikum aus, und darum wollen wir auch unsern eignen guten Geschmack haben und keine Possen.

LAMPENPUTZER: Aber das Pochen ist ungezogen und beweist, daß Sie keinen Geschmack haben. Hier bei uns wird nur geklatscht und bewundert; denn solch honettes Theater, wie das unsre hier, wächst nicht auf den Bäumen, müssen Sie wissen.

DER DICHTER hinter dem Theater.

DICHTER: Das Stück wird sogleich seinen Anfang nehmen.

MÜLLER: Kein Stück - wir wollen kein Stück - wir wollen guten Geschmack -

ALLE: Geschmack! Geschmack!

DICHTER: Ich bin in Verlegenheit; - was meinen Sie, wenn ich fragen darf!

SCHLOSSER: Geschmack! - Sind Sie ein Dichter, und wissen nicht einmal, was Geschmack ist?

DICHTER: Bedenken Sie, einen jungen Anfänger -

SCHLOSSER: Wir wollen nichts von Anfänger wissen - wir wollen ein ordentliches Stück sehn - ein geschmackvolles Stück!

DICHTER: Von welcher Sorte? Von welcher Farbe?

MÜLLER: Familiengeschichten.

LEUTNER: Lebensrettungen.

FISCHER: Sittlichkeit und deutsche Gesinnung.

SCHLOSSER: Religiös erhebende, wohltuende geheime Gesellschaften!

WIESENER: Hussiten und Kinder!

NACHBAR: Recht so; und Kirschen dazu, und Viertelsmeister!

DER DICHTER kömmt hinter dem Vorhange hervor.

DICHTER: Meine Herren -

ALLE: Ist der der Dichter?

FiSCHER: Er sieht wenig wie ein Dichter aus.

SCHLOSSER: Naseweis.

DICHTER: Meine Herren - verzeihen Sie meiner Keckheit -

FiSCHER: Wie können Sie solche Stücke schreiben? Warum haben Sie sich nicht gebildet?

DICHTER: Vergönnen Sie mir nur eine Minute Gehör, ehe Sie mich verdammen. Ich weiß, daß ein verehrungswürdiges Publikum den Dichter richten muß, daß von Ihnen keine Appellation stattfindet; aber ich kenne auch die Gerechtigkeitsliebe eines verehrungswürdigen Publikums, daß es mich nicht von einer Bahn zurückschrecken wird, auf welcher ich seiner gütigen Leitung und seiner Einsichten so sehr bedarf.

FISCHER: Er spricht nicht übel.

MÜLLER: Er ist höflicher, als ich dachte.

SCHLOSSER: Er hat doch Respekt vor dem Publikum.

DICHTER: Ich schäme mich, die Eingebung meiner Muse so erleuchteten Richtern vorzuführen, und nur die Kunst unsrer Schauspieler tröstet mich noch einigermaßen, sonst würde ich ohne weitere Umstände in Verzweiflung versinken.

FISCHER: Er dauert mich.

MÜLLER: Ein guter Kerl!

DICHTER: Als ich Dero gütiges Pochen vernahm - noch nie hat mich etwas dermaßen erschreckt, ich bin noch bleich und zittre und begreife selbst nicht, wie ich zu der Kühnheit komme, so vor Ihnen zu erscheinen.

LEUTNER: So klatscht doch!

Alle klatschen.

DICHTER: Ich wollte einen Versuch machen, durch Laune, wenn sie mir gelungen ist, durch Heiterkeit, ja, wenn ich es sagen darf, durch Possen zu belustigen, da uns unsre neusten Stücke so selten zum Lachen Gelegenheit geben.

MÜLLER: Das ist auch wahr.

LEUTNER: Er hat recht - der Mann.

SCHLOSSER: Bravo! bravo!

ALLE: Bravo! bravo! Sie klatschen.

DICHTER: Mögen Sie, Verehrungswürdige, jetzt entscheiden, ob mein Versuch nicht ganz zu verwerfen sei. Mit Zittern zieh ich mich zurück, und das Stück wird seinen Anfang nehmen. Er verbeugt sich sehr ehrerbietig und geht hinter den Vorhang.

ALLE: Bravo! bravo!

STIMME VON0 DER GALERIE: D a c a p o ! -

Alles lacht. Die Musik fängt wieder an, indem geht der Vorhang auf.


ERSTER AKT

Erste Szene

Kleine Bauernstube.


LORENZ, BARTHEL, GOTTLlEB. DER KATER HINZ liegt auf einem Schemel am Ofen.

LORENZ: Ich glaube, daß nach dem Ableben unsers Vaters unser kleines Vermögen sich bald wird einteilen lassen. Ihr wißt, daß der selige Mann nur drei Stück von Belang zurückgelassen hat: ein Pferd, einen Ochsen und jenen Kater dort. Ich, als der Älteste, nehme das Pferd, Barthel, der nächste nach mir, bekömmt den Ochsen, und so bleibt denn natürlicherweise für unsern Jüngsten der Kater übrig.

LEUTNER, im Parterre: Um Gottes willen! hat man schon eine solche Exposition gesehn! Man sehe doch, wie tief die dramatische Kunst gesunken ist!

MÜLLER: Aber ich habe doch alles recht gut verstanden.

LEUTNER: Das ist ja eben der Fehler, man muß es dem Zuschauer so verstohlenerweise unter den Fuß geben, ihm aber nicht so geradezu in den Bart werfen.

MÜLLER: Aber man weiß doch nun, woran man ist.

LEUTNER: Das muß man ja durchaus nicht so geschwind wissen; daß man so nach und nach hineinkömmt, ist ja eben der beste Spaß.

SCHLOSSER: Die Illusion leidet darunter, das ist ausgemacht.

BARTHEL: Ich glaube, Bruder Gottlieb, du wirst auch mit der Einteilung zufrieden sein, du bist leider der Jüngste, und da mußt du uns einige Vorrechte lassen.

GOTTLlEB : Freilich wohl.

SCHLOSSER: Aber warum mischt sich denn das Pupillenkollegium nicht in die Erbschaft? Das sind ja Unwahrscheinlichkeiten, die unbegreiflich bleiben!

LORENZ: So wollen wir denn nur gehn, lieber Gottlieb, lebe wohl, laß dir die Zeit nicht lang werden.

GOTTLIEB: Adieu.

Die Brüder gehn ab.

GOTILlEB allein. Monolog: Sie gehn fort - und ich bin allein. - Wir haben alle drei unsre Hütten; Lorenz kann mit seinem Pferde doch den Acker bebauen, Barthel kann seinen Ochsen schlachten und einsalzen und eine Zeitlang davon leben - aber was soll ich armer Unglückseliger mit meinem Kater anfangen? - Höchstens kann ich mir aus seinem Felle für den Winter einen Muff machen lassen; aber ich glaube, er ist jetzt noch dazu in der Mause. - Da liegt er und schläft ganz ruhig. - Armer Hinze! Wir werden uns bald trennen müssen. Es tut mir leid, ich habe ihn auferzogen, ich kenne ihn wie mich selber - aber er wird daran glauben müssen, ich kann mir nicht helfen, ich muß ihn wahrhaftig verkaufen. - Er sieht mich an, als wenn er mich verstände; es fehlt wenig, so fang ich an zu weinen. Er geht in Gedanken auf und ab.

MÜLLER: Nun, seht Ihr wohl, daß es ein rührendes Familiengemälde wird? Der Bauer ist arm und ohne Geld, er wird nun in der äußersten Not sein treues Haustier verkaufen an irgendein empfindsames Fräulein, und dadurch wird am Ende sein Glück gegründet werden. Sie verliebt sich in ihn und heiratet ihn. Es ist eine Nachahmung vom "Papagei" von Kotzebue; aus dem Vogel ist hier eine Katze gemacht, und das Stück findet sich von selbst.

FISCHER: Nun es so kömmt, bin ich auch zufrieden.

HINZE DER KATER richtet sich auf, dehnt sich, macht einen hohen Buckel, gähnt und spricht dann: Mein lieber Gottlieb, ich habe ein ordentliches Mitleiden mit Euch.

GOTILIEB erstaunt: Wie, Kater, du sprichst?

DIE KUNSTRICHTER, im Parterre: Der Kater spricht? - Was ist denn das?

FISCHER: Unmöglich kann ich da in eine vernünftige Illusion hineinkommen.

MÜLLER: Eh ich mich so täuschen lasse, will ich lieber zeitlebens kein Stück wieder sehn.

HINZE: Warum soll ich nicht sprechen können, Gottlieb?

GOTTLlEB: Ich hätt es nicht vermutet, ich habe zeitlebens noch keine Katze sprechen hören.

HINZE: Ihr meint, weil wir nicht immer in alles mitreden, wären wir gar Hunde.

GOTTLlEB: Ich denke, ihr seid bloß dazu da, Mäuse zu fangen.

HINZE: Wenn wir nicht im Umgange mit den Menschen eine gewisse Verachtung gegen die Sprache bekämen, so könnten wir alle sprechen.

GOTTLlEB: Nun, das gesteh ich! - Aber warum laßt ihr euch denn so gar nichts merken?

HINZE: Um uns keine Verantwortung zuzuziehen; denn wenn uns sogenannten Tieren noch erst die Sprache angeprügelt würde, so wäre gar keine Freude mehr auf der Welt. Was muß der Hund nicht alles tun und lernen! Wie wird das Pferd gemartert! Es sind dumme Tiere, daß sie sich ihren Verstand merken lassen, sie müssen ihrer Eitelkeit durchaus nachgeben; aber wir Katzen sind noch immer das freieste Geschlecht, weil wir uns bei aller unsrer Geschicklichkeit so ungeschickt anzustellen wissen, daß es der Mensch ganz aufgibt, uns zu erziehen.

GOTTLlEB: Aber warum entdeckst du mir das alles?

HINZE : Weil Ihr ein guter, ein edler Mann seid, einer von den wenigen, die keinen Gefallen an Dienstbarkeit und Sklaverei finden; seht, darum entdecke ich mich Euch ganz und gar.

GOTTLlEB reicht ihm die Hand: Braver Freund!

HINZE: Die Menschen stehn in dem Irrtume, daß an uns jenes seltsame Murren, das aus einem gewissen Wohlbehagen entsteht, das einzige Merkwürdige sei; sie streicheln uns daher oft auf eine ungeschickte Weise, und wir spinnen dann gewöhnlich nur, um uns vor Schlägen zu sichern. Wüßten sie aber mit uns auf die wahre Art umzugehn, glaube mir, sie würden unsre gute Natur zu allem gewöhnen, und Michel, der Kater bei Eurem Nachbar, läßt es sich ja auch zuweilen gefallen, für den König durch einen Tonnenband zu springen.

GOTTLIEB: Da hast du recht.

HINZE: Ich liebe Euch, Gottlieb, ganz vorzüglich. Ihr habt mich nie gegen den Strich gestreichelt, Ihr habt mich schlafen lassen, wenn es mir recht war, Ihr habt Euch widersetzt, wenn Eure Brüder mich manchmal aufnehmen wollten, um mit mir ins Dunkle zu gehn und die sogenannten elektrischen Funken zu beobachten - für alles dieses will ich nun dankbar sein.

GOTTLIEB: Edelmütiger Hinze! Ha, mit welchem Unrecht wird von euch schlecht und verächtlich gesprochen, eure Treue und Anhänglichkeit bezweifelt! Die Augen gehn mir auf; welchen Zuwachs von Menschenkenntnis bekomme ich so unerwartet!

FISCHER: Freunde, wo ist unsre Hoffnung auf ein Familiengemälde geblieben?

LEUTNER: Es ist doch fast zu toll.

SCHLOSSER: Ich bin wie im Traum.

HINZE: Ihr seid ein braver Mann, Gottlieb - nehmt's mir nicht übel -, Ihr seid etwas eingeschränkt, borniert, keiner der besten Köpfe, wenn ich frei heraus sprechen soll.

GOTTLIEB: Ach Gott nein.

HINZE: Ihr wißt zum Beispiel jetzt nicht, was Ihr anfangen wollt.

GOTTLIEB: Du hast ganz meine Gedanken.

HINZE: Wenn Ihr Euch auch einen Muff aus meinem Pelze machen ließet -

GOTTLIEB: Nimm's nicht übel, Kamerad, daß mir das vorher durch den Kopf fuhr.

HINZE: Ach nein, es war ein ganz menschlicher Gedanke. Wißt Ihr kein Mittel, Euch durchzubringen?

GOTIUEB: Kein einziges.

HINZE: Ihr könntet mit mir herumziehn und mich für Geld sehen lassen - aber das ist immer keine sichre Lebensart.

GOTTLIEB: Nein.

HINZE: Ihr könntet vielleicht ein Naturdichter werden, aber dazu seid Ihr zu gebildet; Ihr könntet an ästhetischen Journalen mitarbeiten, aber, wie gesagt, Ihr seid keiner der besten Köpfe, die dazu immer verlangt werden; da müßtet Ihr doch Jahr und Tag abwarten, weil es nachher nicht mehr so genau genommen wird, denn nur die neuen Besen kehren scharf - aber das Ding ist überhaupt zu umständlich.

GOTTLIEB: Jawohl.

HINZE: Nun, ich will schon noch besser für Euch sorgen; verlaßt Euch drauf, daß Ihr durch mich noch ganz glücklich werden sollt.

GOTTLIEB: O bester, edelmütigster Mann! Er umarmt ihn zärtlich.

HINZE: Aber Ihr müßt mir auch trauen.

GOTTLIEB: Vollkommen, ich kenne ja jetzt dein redliches Gemüt.

HINZE: Nun, so tut mir den Gefallen und holt mir sogleich den Schuhmacher, daß er mir ein Paar Stiefeln anmesse.

GOTTLIEB: Den Schuhmacher? - Stiefeln?

HINZE: Ihr wundert Euch; aber bei dem, was ich für Euch zu tun gesonnen bin, habe ich so viel zu gehn und zu laufen, daß ich notwendig Stiefeln tragen muß.

GOTTLIEB: Aber warum nicht Schuh?

HINZE: Gottlieb, Ihr versteht das Ding nicht, ich muß dadurch ein Ansehn bekommen, ein imponierendes Wesen, kurz, eine gewisse Männlichkeit, die man in Schuhen zeitlebens nicht hat.

GOTTLIEB: Nun, wie du meinst - aber der Schuster wird sich wundern.

HINZE: Gar nicht, man muß nur nicht tun, als wenn es etwas Besondres wäre, daß ich Stiefeln tragen will; man gewöhnt sich an alles.

GOTTLIEB: Jawohl, ist mir doch der Diskurs mit dir ordentlich ganz geläufig geworden. - Aber noch eins, da wir jetzt so gute Freunde geworden sind, so nenne mich doch auch "du" ; warum wollen wir noch Komplimente miteinander machen; macht die Liebe nicht alle Stände gleich?

HINZE: Wie du willst.

GOTTLIEB: Da geht gerade der Schuhmacher vorbei. - He! - pst! Herr Gevatter Leichdorn! Will Er wohl einen Augenblick bei mir einsprechen?

DER SCHUHMACHER kömmt herein.

SCHUHMACHER: Prosit! - Was gibt's Neues?

GOTTLlEB: Ich habe lange keine Arbeit bei Ihm bestellt.

SCHUHMACHER: Nein, Herr Gevatter, ich habe jetzt überhaupt gar wenig zu tun.

GOTTLlEB: Ich möchte mir wohl wieder ein Paar Stiefeln machen lassen -

SCHUHMACHER: Setz Er sich nur nieder, das Maß hab ich bei mir.

GOTTLlEB: Nicht für mich, sondern für meinen jungen Freund da.

SCHUHMACHER: Für den da? - Gut.

HINZE setzt sich auf einen Stuhl nieder und halt das rechte Bein hin.

Ludwig Tieck (1773-1853)
Kupferstich von Carl August Schwerdgeburth
nach Friedrich Gießmann (1831).
SCHUHMACHER: Wie beliebt Er denn Musje?

HINZE: Erstlich, gute Sohlen, dann braune Klappen und vor allen Dingen steif.

SCHUHMACHER: Gut. - Er nimmt Maß. - Will Er nicht so gut sein - die Krallen - oder Nägel etwas einzuziehen? Ich habe mich schon gerissen.

HINZE: Und schnell müssen sie fertig werden. Da ihm das Bein gestreichelt wird, fängt er wider Willen an zu spinnen.

SCHUHMACHER: Der Musje ist recht vergnügt.

GOTTLIEB: Ja, er ist ein aufgeräumter Kopf, er ist erst von der Schule gekommen, was man so einen Vocativus nennt.

SCHCHMACHER: Na, adjes. Ab.

GOTTLlEB : Willst du dir nicht etwa auch den Bart scheren lassen.

HINZE: Beileibe nicht, ich sehe so weit ehrwürdiger aus, und du weißt ja wohl, daß wir Katzen dadurch unmännlich und verächtlich werden. Ein Kater ohne Bart ist nur ein jämmerliches Geschöpf.

GOTTLlEB: Wenn ich nur wüßte, was du vorhast?

HINZE: Du wirst es schon gewahr werden. - Jetzt will ich noch ein wenig auf den Dächern spazierengehn, es ist da oben eine hübsche freie Aussicht, und man erwischt auch wohl eine Taube.

GOTTLlEB: Als guter Freund will ich dich warnen, daß sie dich nicht dabei ertappen; die Menschen denken meist in diesem Punkt sehr unbillig.

HINZE: Sei unbesorgt, ich bin kein Neuling. - Adieu unterdessen. Geht ab.

GOTTLlEB allein: In der Naturgeschichte steht, daß man den Katzen nicht trauen könne und daß sie zum Löwengeschlechte gehören, und ich habe vor einem Löwen eine gar erbärmliche Furcht; auch sagt man im Sprichwort: falsch wie eine Katze; wenn also nun der Kater kein Gewissen hätte, so könnte er mir mit den Stiefeln nachher davonlaufen, für die ich mein letztes Geld hingeben muß, und sie irgendwo vertrödeln, oder er könnte sich beim Schuhmacher dadurch beliebt machen wollen und nachher bei ihm in Dienste treten. - Aber der hat ja schon einen Kater. Nein, Hinz, meine Brüder haben mich betrogen, und deswegen will ich es mit deinem Herzen versuchen. - Er sprach so edel, er war so gerührt - da sitzt er drüben auf dem Dache und putzt sich den Bart - vergib mir, erhabener Freund, daß ich an deinem Großsinn nur einen Augenblick zweifeln konnte. Er geht ab.

FISCHER: Welcher Unsinn!

MÜLLER: Warum der Kater nur die Stiefeln braucht, um besser gehn zu können! - Dummes Zeug!

SCHLOSSER: Es ist aber, als wenn ich einen Kater vor mir sähe!

LEUTNER: Stille! Es wird verwandelt!

Quelle: Der gestiefelte Kater. Ein Kindermärchen. In: Tiecks Werke in zwei Bänden. Erster Band. (Reihe Bibliothek Deutscher Klassiker.) Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1. Auflage 1985, Seite 3 bis 15


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