Marin Marais: Pièces de Viole du Cinquième Livre

Das Talent Marin Marais' wurde sowohl zu seinen Lebzeiten als auch in dem Jahrzehnt danach voll anerkannt. So wird der Komponist in allen musikalischen Lexika Frankreichs und anderswo als einer der großen Virtuosen der Viola da Gamba genannt. Eine neue Ausgabe der "Livres des Pièces de Viole de Gambe" wurde immer mit großer Spannung erwartet.

Allerdings wissen wir trotz seines großartigen Rufes sehr wenig über sein Leben oder seine Persönlichkeit. Erst im 20. Jh. fand François Lesure die Heirats- und die Sterbeurkunde von Marin Marais. Daher wissen wir neben anderem, dass sein Vater, Vineau Marais, ein Schuhmacher war.

Die erste musikalische Ausbildung erhielt Marin Marais durch den Kantor Ouvrand als Chorknabe an St. Germain de L'Auxerrois. Erwähnenswert ist, dass einer seiner Mitschüler der künftige Komponist und Nachfolger Lullys, Michel Delalande (1657-1726) war. In dieser Zeit begann Marais mit dem Gambenspiel. In seinem Werk "Le Parnasse François" beschreibt Titon du Tillet, warum der junge Mann nur sechs Monate Schüler von St. Colombe, dem berühmten Virtuosen dieser Zeit, blieb. Aus Furcht, dass der talentierte Schüler besser werden könnte als er selbst, verweigerte der Meister ihm weiteren Unterricht unter dem Vorwand, Marais könne von ihm nichts mehr lernen.

Vielleicht übertreibt diese biographische Anekdote ein wenig, gleichwohl verdeutlicht sie die außergewöhnlichen musikalischen Fähigkeiten von Marin Marais. So erstaunt es nicht, dass er zum Zeitpunkt seiner Heirat im Alter von 20 Jahren bereits zum Königlichen Musikanten ernannt worden war. Ein Jahr später zählte sein Gambenkollege Jean Rousseau ihn bereits zu den Großen der Zeit.

Im Jahre 1769 wurde Marais der Titel des "Ordinnaire de la Chambre du Roy" für die Gambe verliehen. Der junge Solist fand rasch Eingang in den Kreis um "Superintendent" Jean-Baptiste Lully, der, indem er ihn unter seine Fittiche nahm, ihm das Wohlwollen des Königs sicherte. Lully gab ihm Kompositionsunterricht und erlaubte ihm ab und zu, das königliche Opernorchester zu dirigieren. Titon du Tillet berichtet: "Marin schloss sich Lully an, der eine hohe Meinung von ihm hatte und ihm oft erlaubte, während der Aufführung seiner Opern und anderer musikalischer Werke den Takt zu schlagen."

Im Jahre 1686 stellte Marais sein erstes substantielles Werk "L'Idylle dramatique sur la Paix" vor. Mercure Galant berichtet davon: "Die Frau des Dauphins war so begeistert, dass sie befahl, die Vorstellung sofort zu wiederholen. Und alle, die es bereits gehört hatten, lauschten ein zweites Mal und bestätigten den erneuten Genuss. Und am nächsten Tag wurde es noch ein drittes Mal in den königlichen Gemächern gesungen."

Der Erfolg seines Erstlingswerkes ermunterte Marais, auf diesem Pfad fortzuschreiten und noch im gleichen Jahr veröffentlichte er seine erste Sammlung von "Pièces de Viole". Dieses Werk war Jean-Baptiste Lully gewidmet in Anerkennung seiner Partnerschaft, einer Anerkennung, die er stets beibehielt. Davon zeugt das Porträt Lullys, das, wie vielfach berichtet wird, an prominenter Stelle seines Arbeitszimmers hing. Vielleicht war es die gleiche Dankbarkeit, aus der heraus er zusammen mit Louis Lully, dem Sohn von Jean-Baptiste, die Oper "Alcide" komponierte.

Marin Marais with seven string viol, 1704.
[From the Collection of The Cipher]
Ciphers Note: Before I collected all of the 16th century viol
 iconography, most people thought this picture was a fluke,
 i.e. someone holding or playing their viol like a guitar,
across the lap, with neck out to the left. Now we know
 better. This hold and posture was in fact common-place,
  the norm, for tenor and alto viols in the 16th century.
Drei Jahre später komponierte er "Ariane et Bacchus" (1696), gefolgt von "Alcione" (1706). Alcione wurde nach ihrer Premiere gleich mehrere Dutzend Mal aufgeführt und danach bis 1750 immer wieder in den Spielplan aufgenommen. Die Szene mit dem Sturm auf hoher See fand soviel Anklang, dass sie vielen Komponisten, darunter auch Rameau, als Vorlage diente. Die vierte Tragédie en Musique "Semele" (1709) wurde 25 Mal erfolgreich aufgeführt, erreichte aber dennoch nicht die Popularität von "Alcione".

Nach der Aufführung seiner letzten Oper zog sich Marais mehr oder weniger aus dem öffentlichen Leben zurück. Mit dem König hatte er abgesprochen, dass sein Sohn Roland ihm als "Ordinnaire de la Chambre du Roy" nachfolgen würde, damit er sich seiner Lehrtätigkeit und vor allem dem Komponieren widmen konnte. Er veröffentlichte weitere drei Sammlungen Pièces de Viole und La Gambe et d'autres morceaux de Simphonie (Sonnerie de Sainte Geneviève, Sonate la Marésienne) für Violine, Gambe und b.c.

Das fünfte Buch der Pièces de Viole ist das letzte der Reihe, mit zusammen 550 Kompositionen für eine, zwei oder drei Violas da Gamba. Marais ordnete diese Stücke neu zu Suiten, wobei er immer verschiedene Tänze und Charakterstücke einschloss. In dieser Hinsicht kann sein Werk für Viola da Gamba verglichen werden mit den verschiedenen Kollektionen für Cembalo von François Couperin. Die Verschiedenartigkeit der Suiten Marais' ist bemerkenswert. In der Tat schöpft der Komponist alle Ausdrucksmöglichkeiten der Viola da Gamba aus, und der Hinweis auf die Instrumentaltechniken wie den Bogenstrich und das Zupfen (für jene, die mit der Theorbetechnik vertraut sind, macht Marais da Unterschiede) und er gibt auch Anweisungen, wie Harmonie und Melodie zu spielen sind.

Die ganze Bandbreite dieser Möglichkeiten findet man in dem Stück Rondeau moité pincé et moité coup d'archet ou tout coup d'archet si l‘on veut. Das Prélude en Harpègement (Arpeggio Prélude), in dem die Viola da Gamba ständig vierstimmige Akkorde spielt, illustriert das "Spielen von Harmonie" gut. Das fünfte Buch enthält auch autobiographische Stücke wie "Le Tombeau de Marais le cadet". Titon du Tillet schreibt, dass von Marin Marais' 19 Kindern nur neun im Jahre 1732 noch lebten. Benjamin (Marais le cadet) muss um 1720 gestorben sein.

Eine andere musikalische Miniatur aus dem fünften Buch L'Operation de la taille bezieht sich auf den operativen Eingriff zur Entfernung von Gallensteinen. Ganz zweifellos musste Marais selbst sich dieser äußerst schmerzhaften Operation unterziehen und hat, nachdem er wieder gesundet war, in großartiger Weise die Angst vor der Krankheit widergegeben, den Moment, in dem die Gliedmaßen festgezurrt werden, den Schmerz des Einschnittes und schließlich die Gesundung. "L‘Operation de la taille" ist das ausführlichste Charakterstück in der Sammlung, weil der Komponist eine detaillierte Erklärung zu den musikalischen Figuren geschrieben hat. Die anderen Stücke beschränken sich meist auf einen beschreibenden Titel, wie z.B. La Mutine oder La Mariée. In diesem letzten Stück ist die Notation weniger präzise. Die Phantasie sowohl der Ausführenden als auch der Zuhörenden kann hier sehr hilfreich sein

Quelle: Jan de Winne (Übersetzung Hanno Pfisterer), im Booklet

Track 6: Le Tombeau pour Marais le Cadet


MARIN MARAIS 
Pièces de Viole du Cinquième Livre

Suite in G minor

1 Prélude 2'18"
2 Fantaisie 0'46"
3 Allemande «La Marianne» 3'09"
4 Sarabande 3'33"
5 Gigue «La Pagode» 2'18"
6 Le Tombeau pour Marais le Cadet 6'39"
7 Chaconne in G-major 3'26"
8 Dialogue 4'36"
9 Le Jeu du Volant 1'41"
10 Le Tableau de l'Operation de la Taille 8'00"

Suite in A minor

11 Prélude «Le Soligni» 2'07"
12 Petit Caprice 0'46"
13 Allemande «La Facile» 1'58"
14 Sarabande 3'57"
15 Grande Gavotte 1'39"
16 Menuet 1'49"
17 «La Mariée» 1'34"
18 Gigue «La Mutine» 1'52"
19 La Bagatelle 0'49"
20 Rondeau 2'57"
21 La Poitevine 8'57"

Totale 65'24"

Wieland Kuijken - viola da gamba (N. Bertrand ca.1690)
Kaori Uemura - viola da gamba (R. Ossenbrunner after Colichon)
Robert Kohnen - harpsichord (R. Greenberg)

Recorded at l'Eglise Protestante de Bruxelles - Chapelle Royale, Belgium
Recording date: March 1987
Produced and recorded by Adelheid and Andreas Glatt
Front illustration: J.-M.Nattier (1685-1766): Madame Henriette
(P) 1987 (C) 2007

Einfälle und Bemerkungen - aus Lichtenbergs Sudelbüchern



Heft D 1773-1775

Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799): Stich von
 J. C. S. Krüger nach einer Zeichnung von J. L. Strecker
Heutzutage machen drei Pointen und eine Lüge einen Schriftsteller. (137)

Die erste Satire wurde gewiß aus Rache gemacht. Sie zu Besserung seines Nebenmenschen gegen die Laster und nicht gegen den Lasterhaften zu gebrauchen ist schon ein geleckter, abgekühlter, zahm gemachter Gedanke. (138)

Ein Grab ist doch immer die beste Befestigung wider die Stürme des Schicksals. (141)

Dummköpfe in Genies zu verwandeln oder Büchenholz in Eichen ist wohl so schwer als Blei in Gold. (144)

Er hat mich einiger Fäden des frömmsten Geifers gewürdigt und sein geweihtes Pfui über mein Werkchen ausgespuckt. (162)

Sich in einen Ochsen verwandeln ist noch kein Selbstmord. (167)

Ich bin nun nicht mehr Geselle, als Mensch betrachtet, ich verarbeite selbst Meinungen, so gut ich kann. Wenn sie nicht abgehen, so ist es mein Schaden. Aber meine Schuld? Das ist eine andere Frage. (169)

Acht Bände hat er geschrieben. Er hätte gewiß besser getan, er hätte acht Bäume gepflanzt oder acht Kinder gezeugt. (173)

Bei Ausarbeitungen habe vor Augen: Zutrauen auf dich selbst, edlen Stolz und den Gedanken, daß andere nicht besser sind als du, die deine Fehler vermeiden und dafür andere begehn, die du vermieden hast. (174 )

Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, das heißt vermutlich: Der Mensch schuf Gott nach dem seinigen. (198)

Heutzutage haben wir schon Bücher von Büchern und Beschreibungen von Beschreibungen. (201)

Dann gnade Gott denen von Gottes Gnaden. (213)

Was die Spannung der Triebfedern in uns am meisten hemmt, ist, andere Leute im Besitz des Ruhms zu sehen, von deren Unwürdigkeit man überzeugt ist. (215)

Der gute Schriftsteller ist der, der viel und lange gelesen und nach hundert Jahren noch in allerlei Format aufgelegt und eben dadurch das Vergnügen des Menschen im allgemeinen wird. Das ganze menschliche Geschlecht lobt nur das Gute, das Individuum oft das Schlechte. (216)

Regeln für den Schriftsteller: Allen Ständen verständlich und angenehm, zweitens die Nachwelt vor Augen oder eine gewisse Gesellschaft, den Hof pp. (217)

A Foolscap
Die Genies brechen die Bahnen, und die schönen Geister ebnen und verschönern sie. Eine Wegverbesserung in den Wissenschaften wäre anzuraten, um desto besser von einer zu den andern kommen zu können. (218)

Es ist mit dem Witz wie mit der Musik, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man. (220)

Es ist eine Bemerkung, die ich durch vielfältige Erfahrung bestätigt gefunden habe, daß unter Gelehrten diejenigen fast allezeit die verständigsten sind, die nebenher sich mit einer Kunst beschäftigen oder, wie man im Plattdeutschen sagt, klütern.
(226)

Der gesunde Gelehrte, der Mann, bei dem Nachdenken keine Krankheit ist. (237)

Das ist eine Arbeit, wobei sich, glaube ich, die Geduld selbst die Haare ausrisse. (242)

Weil doch nun einmal Geld in der Welt dasjenige ist, was macht, daß ich das Kinn höher trage, freier aufsehe, sicherer auftrete, härter an andere anlaufe. (244)

Es wäre kein Wunder, fürwahr, wenn die Zeit einem solchen Schurken das Stundenglas ins Gesichtschmisse. (250)

Wenn unsere jetzt im Schwang gehende registerartige Gelehrsamkeit nicht bald zu ihrem Winterstillstand kommt, so ist allerdings viel zu befürchten. Der Mensch lebt allein, um sein und seines Mitmenschen Wohl so sehr zu befördern, als es seine Kräfte und seine Lage erlauben. Hierin kürzer zu seinem Endzweck zu gelangen, nützt er die Versuche seiner Vorfahren. Er studiert. Ohne jene Absicht studieren, bloß um sagen zu können, was andere getan haben, das heißt die letzte der Wissenschaften, solche Leute sind so wenig eigentliche Gelehrte, als Register Bücher sind. Nicht bloß wissen, sondern auch für die Nachwelt tun, was die Vorwelt für uns getan hat, heißt ein Mensch sein. Soll ich, um nichts noch einmal zu erfinden, was schon erfunden ist, mein Leben über der Gelehrtengeschichte zubringen? Sagt man ja Dinge vorsätzlich zweimal, und man nimmt es einem nicht übel, wenn nur die Einkleidung neu ist. Hast du selbst gedacht, so wird deine Erfindung einer schon erfundenen Sache gewiß allemal das Zeichen des Eigentümlichen an sich tragen. (252)

Den richtigen Begriff von der Vollkommenheit einer Sache festgesetzt, so kann man hernach sicher sein, daß man der Absicht der Natur gemäß handelt, wenn man nach dem großen Endzweck, wachse und mache wachsen, in der Natur handelt. Ich binsicher von der Allgemeinheit dieses Gesetzes überzeugt. (257)

Einige Ärzte wollen nun gar glauben, daß das menschliche Geschlecht die venerischen Krankheiten und andere den Satiren zuzuschreiben habe, die man auf die Ärzte gemacht hat. (269)

A Greedy Pig
Wenn man über dieses anfängt zu sprechen, so wird es plausibel, denkt man aber daran, so findet man, daß es falsch ist. Der erste Blick, den ich im Geist auf eine Sache tue, ist sehr wichtig. Unser Geist übersieht die Sache dunkel von allen Seiten, welches oft mehr wert ist als eine deutliche Vorstellung von einer einzigen. (271)

Ich glaube, der schlechteste Gedanke kann so gesagt werden, daß er die Wirkung des besten tut, sollte auch das letzte Mittel dieses sein, ihn einem schlechten Kerl in einem Roman oder Komödie in den Mund zu legen. (273)

Ob ein Mann, der schreibt, gut oder schlecht schreibt, ist gleich ausgemacht, ob aber einer, der nichts schreibt und stillesitzt, aus Vernunft oder aus Unwissenheit stillesitzt, kann kein Sterblicher ausmachen. (283)

Die Bauernmädchen gehen barfuß und die vornehmen barbrust. (301)

Das bißchen Kopf, das sie noch haben, zerbrechen sie sich mit solchem Zeuge. (307)

Ich stelle mir vor, wo wir an die uns gesetzten Grenzen der Dinge kommen oder noch ehe wir daran kommen, so können wir ins Unendliche sehen, so wie wir auf der Oberfläche der Erde in den unermeßlichen Raum hinaussehen. (310)

Man muß keinem Werk, hauptsächlich keiner Schrift, die Mühe ansehen, die sie gekostet hat. Ein Schriftsteller, der noch von der Nachwelt gelesen sein will, muß es sich nicht verdrüßen lassen, Winke zu ganzen Büchern, Gedanken zu Disputationen in irgendeinen Winkel eines Kapitels hinzuwerfen, daß man glauben muß, er habe sie zu Tausenden wegzuschmeißen. (311)

Klein und nett, kurz: recht zaunköniglich. (315)

Bei wachender Gelehrsamkeit und schlafendem Menschenverstand ausgeheckt. (322)

Unsere Welt wird noch so fein werden, daß es so lächerlich sein wird, einen Gott zu glauben als heutzutage Gespenster. (326)

Daß der Mensch das edelste Geschöpf sei, läßt sich auch schon daraus abnehmen, daß es ihm noch kein anderes Geschöpf widersprochen hat. (328)

Es läßt sich ohne sonderlich viel Witz so schreiben, daß ein anderer sehr vielen haben muß, es zu verstehen. (329)

Die großen Medaillen Gellert, Hagedorn pp. hat die Natur eingeschmolzen und scheint sie uns nun in kleinen Kurantsorten wiederzugeben. (331)

Einer unsrer Voreltern muß in einem verbotenen Buch gelesen haben. (336)

Die Täfelchen von Schokolade und Arsenik, worauf die Gesetze geschrieben sind. (337)

Es muß untersucht werden, ob es überhaupt möglich, etwas zu tun, ohne sein eignes Bestes immer dabei vor Augen zu haben. (347)

A Parrot
Unsere besten Ausdrücke werden veralten; schon manches Wort ist jetzo niedrig, was ehmals eine kühne Metapher war. Es ist also gewissermaßen der Dauer eines Werks zuträglich, wenn man etwas neu im Stil tut, doch so, daß die Nachahmung schwer ist; es kann nicht so leicht veraltern. (359)

Der Mangel an Ideen macht unsere Poesie jetzt so verächtlich. Erfindet, wenn ihr wollt gelesen sein! Wer, Henker, wird nicht gern etwas Neues lesen? (360)

Man kann eine Sache wieder so sagen, wie sie schon ist gesagt worden, sie vom Menschenverstand weiter abbringen oder sie ihm nähern: das erste tut der seichte Kopf, das zweite der Enthusiast, das dritte der eigentliche Weltweise. (361)

Der Deutsche ist nie mehr Nachahmer, als wenn er absolut Original sein will, weil es andere Nationen auch sind; den Original-Schriftstellern andrer Nationen fällt es nie ein, Original sein zu wollen. Der Esprit du Corps zeugt Gedanken; in einer Rezensenteninnung hat mancher Kopf einen Einfall gehabt, den er insuliert nicht gehabt haben würde. (364)

Der oft unüberlegten Hochachtung gegen alte Gesetze, alte Gebräuche und alte Religion hat man alles Übel in der Welt zu danken. (366)

Kann es nicht mit den Gelehrten sein wie mit den Gerichten vor Zeiten, da die jüngsten Schöffen das Henken verrichteten? (384)

Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch? (396)

In den vorigen Zeiten achtete man auf Kometen und Nordscheine, um andere Bedürfnisse zu befriedigen. Aberglauben trieb damals den Beobachter, jetzt tut es Ehrgeiz und Wißbegierde. (401)

Der Philosoph setzt sich oft über die Großen der Erde weg mit einem Gedanken, der Große setzt sich über sie weg und fühlt es. (403)

Die Welt muß noch nicht sehr alt sein, weil die Menschen noch nicht fliegen können. (404)

Dieses ist eine Theorie, die meines Erachtens in der Psychologie ebendas vorstellt, was eine sehr bekannte in der Physik ist, die das Nordlicht durch den Glanz der Heringe erklärt. (408)

Ich glaube kaum, daß es möglich sein wird zu erweisen, daß wir das Werk eines höchsten Wesens und nicht vielmehr zum Zeitvertreib von einem sehr unvollkommenen sind zusammengesetzt worden. (409)

Je mehr man in einer Sprache durch Vernunft unterscheiden lernt, desto schwerer wird einem das Sprechen derselben. Im Fertigsprechen ist viel Instinktmäßiges, durch Vernunft läßt es sich nicht erreichen. Gewisse Dinge müssen in der Jugend erlernt werden, sagt man; dieses ist von Menschen wahr, die ihre Vernunft zum Nachteil aller übrigen Kräfte kultivieren. (410)

A Crocodil
Es gibt Leute, die nicht sowohl Genie als ein gewisses Talent besitzen, dem Jahrhundert oder wohl gar dem Dezennium seine Wünsche abzumerken, noch ehe es sie tut. (419)

Ich weiß gar nicht, was ihr Leute wollt. Ich bin gar nicht einmal willens, ein großer Mann zu werden, und das hättet ihr mich wenigstens erst einmal vorderhand fragen müssen. Meint ihr denn, um einem Sünder einmal mit der Geißel über den Wirbel zu hauen, müsse man eine Löwenforce besitzen? Man braucht kein großer Mann zu sein, um jemand die Wahrheit zu sagen, und ein Glück für uns, daß auch der arme Teufel Wahrheiten sagen kann. (420)

Wenn wir mehr selbst dächten, so würden wir sehr viel mehr schlechte und sehr viel mehr gute Bücher haben. (422)

Wenn heutzutage jemand einen beißenden Gedanken anbringen will, so macht er seinen Versuch an einem armen Schriftsteller so wie die Physiologen an Hunden. (426)

Das ganze Zeitungs-All. (427)

Man muß nie denken: Dieser Satz ist mir zu schwer, der gehört für die großen Gelehrten, ich will mich mit den andern hier beschäftigen. Dieses ist eine Schwachheit, die leicht in eine völlige Untätigkeit ausarten kann. Man muß sich für nichts zu geringhalten. (439)

So wird uns der Vetter Engel und der Vetter Affe auslachen. (432)

Es gibt heuer eine gewisse Art Leute, meistens junge Dichter, die das Wort Deutsch fast immer mit offnen Naslöchern aussprechen - ein sicheres Zeichen, daß der Patriotismus bei diesen Leuten sogar auch Nachahmung ist. Wer wird immer mit dem Deutschen so dicketun? "Ich bin ein deutsches Mädchen", ist das etwa mehr als ein englisches, russisches oder otaheitisches? Wollt ihr damit sagen, daß die Deutschen auch Geist und Talent besitzen? Oh, das leugnet nur ein Unwissender oder ein Tor. Ich stelle mich zum Beweis, wenn er sich zur Behauptung stellt. Er sei Prinz, Duc, Bischof, Lord, Alderman, Don oder was er will. Gut, das ist ein Narre oder Unwissender, wer das leugnet, das nehme ich schlechtweg an. Ich bitte euch, Landesleute, laßt diese gänzlich unnütze Prahlerei. Die Nation, die uns verlacht und die, die uns beneidet, müssen sich darüber kützeln, zumal wenn sie innewerden, daß es ihnen gesagt sein soll. (440)

Wenn man die meisten Gelehrten ansieht, nichts verrichten sie an sich, als daß sie sich die Nägel und Federn schneiden. Ihre Haare lassen sie sich durch andere in Ordnung legen, ihre Kleidung durch andere machen, ihre Speise durch andre bereiten - dafür, daß sie das Wetter in ihrem Kopfe beobachten. (446)

Der Mann hatte so viel Verstand, daß er fast zu nichts mehr in der Welt zu gebrauchen war. (447)

Ich kenne die Leute wohl, die ihr meint, sie sind bloß Geist und Theorie und können sich keinen Knopf annähen. Lauter Kopf und nicht so viel Hand, als nötig ist, einen Knopf anzunähen. (448)

A Bantom
Die beiden Frauenzimmer umarmten sich aus Grimasse und hingen zusammen wie zwei Vipern in coitu. (458)

Wenn ihn die Welt ganz kennte, so wie ich ihn kenne, meine Herrn, sie würde den Fuchs und [das] Chamäleon in ihren Gleichnissen gegen ihn vertauschen. (459)

Bemühe dich, nicht unter deiner Zeit zu sein. (470)

Er war ein solcher aufmerksamer Grübler, ein Sandkorn sah er immer eher als ein Haus. (471)

Zum Superklugen: Durch das häufige Beobachten nach Regeln in der Absicht, etwas erfinden zu wollen, bekommt die Seele endlich unvermerkt eine verwünschte (Fertigkeit) Leichtigkeit, das Natürliche zu übersehen. (473)

Wenn der Papst heiraten wollte, so wüßte ich ihm keine tugendhaftere Frau vorzuschlagen. (474)

In der Republik der Gelehrten will jeder herrschen, es gibt da keine Aldermänner, das ist übel, jeder General muß sozureden den Plan entwerfen, Schildwache stehen und die Wachtstube fegen und Wasser holen: es will keiner dem andern in die Hände arbeiten. (479)

Alles verfeinert sich: Musik war ehmals Lärm, Satire war Pasquill, und da, wo man heutzutage sagt: "Erlauben Sie gütigst", schlug man einem vor alters hinter die Ohren. (483)

Nonsense ist in der Tat etwas sehr Betrübtes, und ein Professor, der welchen schreibt, sollte freundlich auf Pension gesetzt werden. (484)

Ich hoffe, die meisten meiner Leser männlichen Geschlechts werden ehmals Primaner gewesen sein und aus der Erfahrung wissen, wie heftig um jene Zeit der Trieb ist, Bücher zu rezensieren, und wie schmeichelhaft der sündigen Seele, Entreebilletts zum Tempel des Nachruhms für Leute zu stempeln, die älter sind als wir. (494)

Zwei Absichten muß man bei der Lektüre beständig vor Augen haben, wenn sie vernünftig sein soll: einmal, die Sachen zu behalten und sie mit seinem System zu vereinigen, und dann vornehmlich, sich die Art eigen zu machen, wie jene Leute die Sachen angesehen haben. Das ist die Ursache, warum man jedermann warnen soll, keine Bücher von Stümpern zu lesen, zumal wenn sie ihre Räsonnements einmischen. Man kann Sachen aus ihren Kompilationen lernen; allein, was einem Philosophen ebenso wichtig, wo nicht wichtiger ist, seiner Denkungsart eine gute Form zu geben, lernt er nicht. (502)

Herr, mein Gewissen ist so geldfest, daß meine Taschen in einem halben Jahre keines zu sehn bekommen. (519)

Wie werden einmal unsere Namen hinter den Erfindern des Fliegens und dergleichen vergessen werden. (521)

A little Duck
Es gibt eine gewisse Art von gekünsteltem Unsinn, den der Halbköpfige leicht für tiefe Weisheit, ja wohl gar für ein Weben des Genies hält, erstimulierte Ausbrüche eines fundamentlosen Enthusiasmus, ein fieberhaftes Haschen nach Originalismus ohne Richtigkeit der Empfindung, in welchem der Frankfurter Rezensent oder der Primaner aller Orten Shakespearesche Inspiration zu wittern glaubt, das Rauschen von Libanons ewiger Zeder, die donnernden Tritte des Würgengels und den Klang der Posaune des letzten Tages hört. Es ist nichts. Fünf gegen eins, der Mann, der es geschrieben hat, ist ein Tropf, der mehr scheinen will, als er ist, und damit ist seine arme Seele für den Ruhm der Nachwelt hin, als hätte sie das Licht nie gesehen oder den Satz des Widerspruchs nie gedacht. (526)

Wenn ein Werk auf die Nachwelt kommt, und daran kann es ihm nicht fehlen, wenn es ein Dutzend neue und nützliche Wahrheiten gut vorgetragen enthält und mit messingnen Ecken und Krappen gebunden wird. (530)

Bücher werden aus Büchern geschrieben, unsere Dichter werden meistenteils Dichter durch Dichter lesen. Gelehrte sollten sich mehr darauf legen, Empfindungen und Beobachtungen zu Buch zu bringen. (537)

Auch ich habe seine Oden schnaubende Muse mit Unwillen gehört. (540)

Ein Fähndrich, der nach einer Schlacht, während welcher er sich verkrochen hatte, hinter einer Hecke seinen Hut aufgehängt und ein Loch hineinschießen will, wäre ein Sujet für Hogarth. (544)

Der Herbst, der der Erde die Blätter wieder zuzählt, die sie dem Sommer geliehen hat. (553)

Ein paar Dutzend Millionen Minuten machen ein Leben von fünfundvierzig Jahren und etwas darüber. (558)

Ich bin aus vielfältiger Erfahrung überzeugt, daß die wichtigsten und schwersten Geschäfte in der Welt, die der Gesellschaft den meisten Vorteil bringen, durch die sie lebt und sich erhält, von Leuten getan werden, die zwischen 300 und 800 oder 1000 Taler Besoldung genießen. Zu den meisten Stellen, mit denen 20, 30, 50, 100 Taler oder 2000, 3000, 4000, 5000 Taler verbunden sind, könnte man nach einem halbjährigen Unterricht jeden Gassenjungen tüchtig machen, und sollte der Versuch nicht gelingen, so suche man die Schuld nicht im Mangel an Kenntnissen, sondern in der Ungeschicklichkeit, diesen Mangel mit dem gehörigen Gesicht zu verbergen. (567)

B. Aber Remus ist doch gewiß ein ehrlicher Mann!
A. Das glaubte ich, der hat sonst weiter nichts zu tun. (570)

Verzeichnis der Druckfehler in dem Druckfehlerverzeichnis. (574)

Er war sonst ein Mensch wie wir, nur mußte er stärker gedrückt werden, um zu schreien. Er mußte zweimal sehen, was er bemerken, zweimal hören, was er behalten sollte; und was andere nach einer einzigen Ohrfeige unterlassen, unterließ er erst nach der zwoten. (578)

'Shadows' Title Page
Endlich kam er, gnau wie er versprochen hatte, nach einem Viertelstündchen, das aber fast so lang war als anderthalb der gewöhnlichen bürgerlichen Stunden. (585)

Die Schurzfellchristen (Freimäurer). (591)

Grade das Gegenteil tun heißt auch nachahmen, es heißt nämlich das Gegenteil nachahmen. (598)

Manche unserer Originalköpfe müssen wir wenigstens so lange für wahnwitzig halten, bis wir so klug werden wie sie. (599)

Ich kann in der Welt nicht begreifen, was wir davon haben, den Alten so bei jeder Gelegenheit gleich den Bart zu streicheln; danken können sie es uns nicht, und aus den breiten und niedrigen Stirnen und den trotzigen Gesichtern zu schließen, worüber sich jeder deutsche Pitschierstecher aufhält, würden sie nicht einmal, wenn sie könnten. Es ist fürwahr eine mächtige Ehre für uns alte Studenten, daß es vor zweitausend Jahren Leute gegeben hat, die gescheuter waren als wir. Meint ihr vielleicht, wir lebten noch in den Zeiten, wo die größte Weisheit in dem Bewußtsein bestand, daß man nichts weiß? Auf das Kapital borgt man euch keinen Magistertitul, sowenig als auf den Reichtum, der in der Armut besteht, einen Groschen. Nein, Freunde, die Zeiten haben wir verschlafen. Diese Sätze sind heutzutage nichts weiter als schöne Nester von ausgeflogenen Wahrheiten. In den philosophischen Kunstkammern gehen sie mit, in die Haushaltung taugen sie nicht einen Schuß Pulver. Eine herrliche Ehre heutzutage, überzeugt zu sein, daß man nichts weiß. Ihr könnt schon daraus sehen, daß der Satz unmöglich mehr gelten kann, oder eure Klagen über die gegenwärtigen Zeiten sind noch in einem andern Betracht widersinnig. Das könnt ihr nicht leugnen, daß wir heutzutage mehr Leute haben, die nichts wissen, und die einfältige Überzeugung davon ließe sich ihnen bald beibringen. (610)

Ich übergebe euch dieses Büchelchen als einen Spiegel, um hinein nach euch, und nicht als eine Lorgnette, um dadurch und nach andern zu sehen. (611)

Quelle: Lichtenbergs Werke in einem Band (Ausgewählt und eingeleitet von Hans Friederici). Aufbau-Verlag Berlin/Weimar. (Reihe Bibliothek Deutscher Klassiker) 2. Auflage 1975, Seite 46 bis 57

Die in Lichtenbergs Bemerkungen eingestreuten Illustrationen stammen aus "Shadows" von Charles Henry Bennett (London, ca. 1850). Angefunden habe ich Sie im legendären Blog BibliOdyssey.

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Marin Marais: Sonnerie de Sainte-Geneviève du Mont (Nikolaus Harnoncourt)

Ausführliche Erklärung der Piranesischen Kupferstiche (»physiognostisch«-ästhetisch-anthropologisches Hauptwerk von Georg Christoph Lichtenberg)

Der Aufgebrachte Musiker: Lichtenbergs Besprechung eines Blattes von Hogarth

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