André Campra: Französische Kantaten (Les Arts Florissants)

André Campra (1660-1744) hatte sich durch sein Opera-Ballet L'Europe Galante und durch seine lyrische Tragödie Tancrède bereits einen Namen im Bereich der Oper geschaffen, als er 1708 mit seiner ersten Sammlung von Kantaten ein Publikum beglückte, welches seine Begeisterung für dieses Genre erst kurz zuvor entdeckt hatte. Das erste Buch mit Französischen Kantaten, von Jean-Baptiste Morin (1677-1745) war nur zwei Jahre zuvor veröffentlicht worden; um 1713 las man im monatlich erscheinenden Mercure Galant: "… Wir werden von Kantaten förmlich überschwemmt." 1714 und 1728 trug Campra mit einer zweiten und dritten Sammlung weiter zu dieser Flut von Werken bei, die um 1730 zu über vierzig Sammlungen von etwa 15 Komponisten angeschwollen war.

Die Entwicklung dieses Genres, welche von David Tunley in seiner Abhandlung Die französische Kantate im 18. Jahrhundert ("The Eighteenth-Century French Cantata", London, 1974) mit großer Genauigkeit nachvollzogen wird, ging mit einem wiedererwachenden Interesse an der italienischen Musik einher, nachdem Jean-Baptiste Lully (1632-1687) gestorben war, dessen vorherrschende Stellung in der Musik dem Absolutismus seines Königs Ludwig XIV. in nichts nachstand. Hinzu kamen Konzerte sowohl von Berufsmusikern als auch von Musikliebhabern, deren Zahl stark angestiegen war, da der König weniger Interesse am musikalischen Mäzenatentum zeigte. Dabei hat der Dichter Jean-Baptiste Rousseau (1671-1741), der Aussage seiner Zeitgenossen zufolge, der französischen Kantate ihren lyrischen Rahmen verliehen. Indem er seine Gedichte an die italienische cantata anlehnte (ein kleines Gedicht, das sich gut für den Gesang eignet), erklärte Rousseau, "… diesen kleinen Gedichten eine Form zu geben, indem ich sie auf einer klaren Allegorie aufbaue, wobei der Körper von den Rezitativen und die Seele von der Melodie gebildet werden. Dabei wähle ich aus traditionellen Mythen solche aus, die mir am besten für meine Zwecke geeignet scheinen".

André Campra (1660-1744).
Stich von Nicolas-Etienne Edelinck nach André Bouys,
 1725, Bibliothèque nationale de France. [Quelle]
Campra, der sich der italienischen Ursprünge der Kantate völlig bewußt war, sowie auch der Polemik, die mit dem Eindringen italienischer und italianisierter Musik verbunden war, wandte sich im Vorwort zu seiner ersten Sammlung an die Öffentlichkeit und äußerte sich zu seinen künstlerischen Zielsetzungen: "Nun, da die Kantate in Mode gekommen ist, fühle ich mich - auf zahlreiche Bitten hin - dazu veranlaßt, dem Publikum einige meiner eigenen Kantaten vorzustellen. Ich habe alles darangesetzt, dabei die Feinheit der französischen Musik mit der Lebhaftigkeit der italienischen zu verbinden … Ich bin wie kein anderer von den Verdiensten der Italiener überzeugt; unsere Sprache jedoch läßt weniger Freiheiten zu als die ihre. Unserer Musik ist eine Schönheit eigen, der sie sich nicht versagen können und die sie zu Imitationen veranlassen wird … Besonderen Wert habe ich darauf gelegt, die Schönheit des Gesangs zu erhalten, sowie auch den Ausdruck und unsere Art zu rezitieren, welche meiner Ansicht nach die bessere ist; mag der gebildete Hörer entscheiden, ob ich recht oder unrecht habe."

Der ausgeprägte lyrische Charakter sowohl von Melodien als auch von Rezitativen macht sich sofort bemerkbar, dabei findet sich in ersteren häufig das italienische da capo, während letztere dem Modell Lullys mit seinem wechselnden Versmaß und der flexiblen Baßstimme folgen. Ein "lebhafter" Basso Continuo unterstreicht so oft den Text, ebenso wie die italianisierten Melismen über den häufig auftretenden Wörtern wie "fliegen", "Wind", "Welle", "Kette" und "Ruhm".

Arion auf dem Delphin.
Aquarell von Matthäus Kern, 1841 [Quelle]
Die Dichter Campras, Roy, Danchet und Fuselier, schlugen im Wesentlichen den von Rousseau vorgezeichneten Weg ein. Sie verwendeten jedoch, vielleicht auf grund der Tatsache, daß sie alle auch Librettisten waren, mit Selbstverständlichkeit Elemente der Opernmusik, die von Campra kunstvoll weiter ausgeführt wurden. Aeneas und Dido beginnt mit einer stürmischen Szene, in welcher der werbende Aeneas das Herz der widerstrebenden Dido erobert; ein brillantes Duett, das die bevorstehende Hochzeit bejubelt, beendet die Kantate, wobei das Thema der Trennung vermieden wird. Venus, vom - instrumental ausgedrückten - Widerhall zwiespältiger Gefühle auf den Plan gerufen, legt den Streit zwischen Heirat und Liebe bei und drängt die Liebenden, mit vereinten Kräften die harten Prüfungen zu bestehen.

Nach einem Loblied auf die Macht der Eintracht erzählt Arion das Geschick jenes halb legendären griechischen Dichters und Musikers, der auf seiner Heimfahrt von Italien über Bord geworfen wurde und auf dem Rücken eines Delphins nach Korinth gelangte. In einem für Oper und Kantate ungewöhnlichen Rezitativ wird zum Schluß berichtet, daß Arion den Delphin mit seiner Stimme bezwungen habe, sowie auch mit der Leier, deren Vermögen, wütende Stürme zu besänftigen, im vorhergehenden Stück durch Flöte und Basso Continuo bereits angedeutet worden war.

In Die Frauen wägt ein enttäuschter Liebhaber die verschiedenen Aspekte der Liebe gegeneinander ab und kritisiert Prüderie, Trägheit und Eifersucht der Frauen; im Schlußrezitativ schließlich spricht er sich dafür aus, dem begehrenswerten aber verderblichen schwachen Geschlecht für immer zu entsagen. Die Zwiespältigkeit in den Gefühlen des Liebenden verdichtet sich dabei in der verhaltenen harmonischen Intensität der Arie "Sohn der Nacht", die sich an die "Sommeil-" oder "Schlummer-Arien" in den Opern Lullys anlehnt.

Quelle: Antonia Banducci (Übersetzung: Almut Lenz), im Booklet


Track 3: Les Femmes



LES FEMMES

Dans un désert inaccessible
Je cherche un Antre écarté,
Où mon âme trop sensible
Contre l'Amour puisse être en sûreté.

Par les vents er par l'orage,
Je fus longtemps agité.
Désirs de tranquillité,
Regrets de la liberté,
Faibles restes de mon naufrage,
Vous ferez ma félicité.

Ah ! qu'un cœur est malheureux
De s'engager dans vos chaines !
Redoutables Souveraines
Des Esclaves amoureux,
Vos mépris sont rigoureux,
Et vos faveurs sont trop vaines.
Ah ! qu'un cœur est malheureux
De s'engager dans vos chaines !

La Coquette nous trahit,
La Prude naus désespère,
Et la Jalouse en colère
Irrite qui la chérit.
La Belle est capricieuse,
La Savante audacieuse
Tyrannise qui la suit.
L’Indolente est ennuyeuse,
Ses insipides langueurs
Ne font qu'endormir nos cœurs.

Fils de la nuit et du silence,
Père de la plus douce paix, Sommeil,
Tes pavots ne sont faits
Que pour l'heureuse indifférence.

J’attendrai sans impatience,
Renaître l'astre du matin,
Je jouirai du jour sans désirer sa fin,
Par la vaine espérance
D'un plaisir gue l'amour remet au lendemain.

Je borne mes réveries
A l'émail de nos prairies.
Je vais passer mes loisirs
Sur les bords d'une fontaine.
Si je pousse des soupirs,
C‘est pour recevoir l'haleine
Des rafraîchissants zéphirs.
Que les Amants dans leurs chaînes
Soient tristes ou satisfaits,
Que les Belles désormais souffrent, ou causent des peines,
Je n'y prends plus de part… dans le fond des forêts,
De mes jours affaiblis, je vais passer le reste.
Qu'il en coûte à nos cœurs,
Sexe aimable et funeste,
A te dire adieu pour jamais.

TRACKLIST

André Campra (1660-1744)

Cantates françaises

[01] "Arion" [14:01]
Cinquième cantate avec flûte, basse de viole et clavecin
[1.1] Lentement: Agréable enchanteresse
[1.2] Récitatif: Arion qui dans l'art des sons
[1.3] Ariette: L'onde el les zéphirs
[l.4] Récitatif: Déjà les matelots
[1.5] Air, lentement: Les flots sentent la puissance
[1.6] Récitatif: Mais ces mortels

[02] "La dispute de l'Amour et de l'Hymen" [12:04]
Quatrième cantate avec violon, flûte, basse de viole et clavecin
[2.1] Air: A l'ombre d'un bois solitaire
[2.2] Gayement: Mais, qu'entends-je?
[2.3] Récitatif: Vénus en s'véillant
[2.4] Air, modéré et piqué: Je range sous vos lois
[2.5] Récitatif: Pourquoi, répond Hymen
[2.6] Air, gracieusement : Cette jeune beauté
[2.7] Récitatif: Vénus, de ces débats
[2.8] Air, mesuré et piqué: Terminez des disputes vaines
[2.9] Ariette, gay et piqué: Hymen, Amour, partez
[2.10] Récitatif: Son grand coeur

[03] "Les femmes" [13:28]
Cantate pour basse avec deux violons, basse de viole et clavecin
[3.1] Lentement: Dans un désert inaccessible
[3.2] Air, vivement: Par les vents et par l'orage
[3.3] Symphonie, lemement
[3.4] Vivement et mesuré: La Coquette nous trahit
[3.5] Gravement: Fils de la nuit et du silence
[3.6] Ariette, louré: Je borne mes réveries

[04] "Énée & Didon" [15:18]
Sixième cantate à deux voix avec basse de viole et clavecin
[4.1] Prélude, vivement. Ensemble: Dieux! quelle horreur!
[4.2] Air, gracieusement: Avouez la douce espérance
[4.3] Récitatif de Didon: C'est de la Reine d'Amatonthe
[4.4] Ariette, gracieusement: Ménagez la faiblesse extréme
[4.5] Air d'Enée: Puisqu'un même noeud nous engage
[4.6] Ensemble: Volez, Hymen, volez
Durée Totale / Total Time [55:08]

Les Arts Florissants
Jill Feldman, soprano
Dominique Visse, haute-contre
Jean-François Gardeil, baryton

John Holloway, Florence Malgoire, Walter Reiter, violons
Robert Claire, flûte allemande
Stephen Stubbs, théorbe
Elisabeth Matiffa, basse de viole
William Christie, clavecin

dir. William Christie

Enregistrement janvier 1986, Salle Adyar (1-2)
mars 1986, Eglise Saint-Martin-du-Méjan, Arles (3-4)
Prise de son Jean-François Pontefract - Direction artistique Michel Bernard
Illustration: Sainte Cécile, oeuvre bolognaise attribuée à Lorenzo Pasinelli (XVIIe sièckle)
Musée des Beaux-Arts, Tours
(P) 1986, 2000

Ortega deutsch


José Ortega y Gasset (1883-1955), Soziologe und Kulturphilosoph, Angehöriger
 der "Generación del 98", während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
ein Denker von internationalem Renommee 
Wie bezeichnend ist der Titel über einem Essay Ortegas: «Gott in Sicht!» So erschallt der Ruf eines Matrosen im Mastkorb, der Auslug hält und das Geschaute meldet, erstaunt und betroffen und freudig, da inmitten der Eintönigkeit des ungeheuren leeren Horizontes wieder ein bestimmtes Wesen auftaucht, das sein verströmtes Interesse auf sich zieht und sammelt, begierig nach einem Dialog mit ihm, in dem es seine Fülle offenbaren wird.

Es ist die kennzeichnende Stellung Ortegas zur Welt; immer hat er sich dicht unter der Mastspitze einer Karavelle des Kolumbus gefühlt, unterwegs nach neuen Meeren, unermessenen Erdteilen. Die erobernde Verwegenheit eines Spaniers des großen Jahrhunderts war in ihm wiedergeboren worden; in lyrischen Ausbrüchen hat sie sich bekundet und selbst genossen. Das Thaumazein des Aristoteles, die Verwunderung, mit welcher die genau gerichtete Aufmerksamkeit, das Nachdenken und also alle Philosophie beginnt, ist im Grund eine hochverständige Sache bei dem auf der Erde wandelnden Griechen: «Wenn die Menschen jetzt, und wenn sie vor alters zu philosophieren begonnen haben, so bot den Antrieb dazu die Verwunderung, zuerst über die nächstliegenden Probleme, so dann im weiteren Fortgang so, daß man sich über die weiter zurückliegenden Probleme Bedenken machte ... »

Was hat sein überschwenglicher Nachfahre daraus gemacht! Ein modernes Lynkeus-Lied, das in Prosa eine Tonart spanischer Lyrik aufnimmt: «Überraschung, Verwunderung sind der Anfang des Begreifens. Sie sind der eigenste Sport und Luxus des geistigen Menschen. Darum ist es seine Zukunftsgebärde, die Welt aus staunend geweiteten Augen zu betrachten. Alles in der Welt ist merkwürdig und wunderbar für ein paar wohlgeöffnete Augen. Dies eben, das Sichwundern, ist eine Götterfreude, die dem Fußballspieler versagt ist, den Denker aber im unaufhörlichen Rausch des Schauenden durch die Welt treibt. Sein Zeichen sind die aufgerissenen Augen. Darum gaben die Alten der Minerva die Eule bei, den Vogel, der immer geblendet ist.» - Der Anfang geht aus von dem Thema des Aristoteles, der Schluß spielt auf Hegels Wort an, daß die Eule der weisen Göttin, d. h. der Philosophie, ihren Flug in der Dämmerung beginne: alle Phasen des Abendlandes sind dem entzückten Spätling gleichzeitig, und alle sind ihm verfügbar geworden. Er blickt darüber hin und fühlt seine Kräfte wachsen.

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Diese Lage, die soviele Zeitgenossen düster beklagen, hat er als Gunst empfunden. Sind wir an einem Ende, so aber gewiß auch an einem Beginn, jedenfalls inmitten des völlig unerschöpften Lebens, das uns wollte und immer Großes von uns will. Die Frage, die er einmal stellt, und die lautet: «Warum dürfen wir sagen, daß die Sonne leuchtet, aber nicht, daß das Leber schön ist, daß es bis zum Rande beladen ist mit köstlichen Werten wie Ophirs Schiffe, die Perlenlast trugen?» - diese Frage wird allen Endzeitphilosophen, welche die Prozeßakten gegen unsere Epoche zusammentragen, ein Ärgernis oder ein Gelächter sein. Und doch bleibt sie neben allen vernichtenden Antworten bestehen, denn sie entspricht einer Urgebärde der Seele, die sich nicht lange in der Faszination durch den heute so berühmten Nullpunkt gefangengibt. Was Verzicht, Resignation, Nichtmehrwollen ist, wußte Ortega besser als wir, weil Spanien sich erledigt und abgedankt fühlte, als er jung war und die Katastrophe von 1898 im Kriege gegen die Vereinigten Staaten miterlebte. Er gehört zu den Regeneradores, den Wiedererweckern seines Landes, als diesem der Glaube an sich versank. Damals begann der Aufschwung, der eine ratlose Jugend mitriß.

Die Erfahrung des Nullpunkts setzte bei ihm den Anfang, von ihr ging er aus. Sie hat sich wiederholt nach zwei Weltkriegen. Ortega konnte sich nicht genugtun, zwischen den Kriegen unsere Gefährdungen aufzuspüren, halb mit Gruseln, halb mit kämpferischem Vergnügen. Er stellte fest, daß die Jugend die Spannungen nicht mehr ertrug, in deren Felder der kultivierte Abendländer gestellt ist, und daß sie ihnen entläuft. Die politischen Folgen davon hat er weniger exakt vorausgesehen als Jacob Burckhardt fünfzig Jahre früher: er befürchtete als Spanier ein Auskneifen ins Willenlose, ins unberührte Geschehenlassen unsinniger Geschichte, hatte aber keine Vorstellung von der Wildheit der von den Ideologen dann enthemmten Energien. Im Aufstand der Massen entwarf er ein Bild des mit sich und überhaupt zufriedenen jungen Herrn, der keine Anstrengung mehr auf sich zu nehmen geruht, sondern sich geistlosen Augenblicksneigungen überläßt; in ihm sah er ein Hauptmerkmal dafür, daß unsere Kultur damit befaßt sei, sich aufzugeben. Doch schon sammelten sich die Unzufriedenen, die Nichtherren, zu ihrem Machtvorstoß, und an Sophisten, die laufend Rechtfertigungen herstellten, fehlte es ihnen nicht. Erschrocken schrieb Ortega nach dem zweiten Kriege: «Die Leute, die uns alle Tage mit rührender Bigotterie in den Ohren liegen, man müsse die abendländische Zivilisation retten, kommen mir in ihrem Eifer wie Ausstopfer von Mumien vor. Die abendländische Zivilisation ist tot; sie ist eines schönen, ehrenvollen Todes gestorben. Sie ist von selbst erloschen, nicht von ihren Feinden getötet; sie selbst war die Kraft, die ihre eigenen Prinzipien erdrosselte ...»

Das Ende in Sicht! Es ist ein taktisches Erschrecken, das dieser effektvolle Schriftsteller uns vormacht, um unser echtes hervorzurufen, von dem er annimmt, es ziehe in uns schöpferische Kräfte herbei, und wären es die letzten, die der Verzweiflung. Nur ein Heilschock ist vorgesehen, also ein Moment, wie ja der Nullpunkt im Einzelnen in einer kleinsten Zeiteinheit, auch beinahe null, aufscheint; dann aber geht es weiter. Und schon ist er wieder bestrebt, uns Mut zu machen, indem er den Menschen definiert als das Wesen, dessen entscheidende Realität darin bestehe, sich mit seiner Zukunft zu beschäftigen. Nicht etwa von Natur aus muß er das: «Nun hat aber der Mensch keine Natur: nichts in ihm ist unveränderlich. Statt Natur hat er Geschichte. Die Geschichte ist jedoch die einer Wirklichkeit eigentümliche Seinsart, und die Substanz dieser Wirklichkeit ist eben die Veränderlichkeit, infolgedessen das Gegenteil jeder Substanz. Der Mensch hat keine Substanz ... Das ist sein Elend und sein Glanz.»

Funktionale Wesen wären wir; aber diese Selbstauffassung ist auch geschichtlichen Wesens, also vergänglich; Jahrhunderte haben Natur und Substanz des Menschen geglaubt und erforscht. Wir aber seien Funktionen unseres Zukunftswillens, und zwar genau seit dem Jahre 1750, als die Fortschrittsidee von Turgot «streng formuliert» wurde, worauf Condorcet sie 1794 in seiner Esquisse d'un tableau historique des progrès de l'esprit humain in alle Weiten verkündete, die Französische Revolution als Großmodell des Fortschritts feiernd. (Er wurde von dieser erst zu Ämtern erhoben, darauf in den Kerker geworfen und getötet.)

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Turgot als Vater des Fortschritts, die Fortschrittsidee als nicht nur historische, sondern anthropologische Grundtatsache der letzten zwei Jahrhunderte - solche Pointen liebte der philosophische Banderillero. Auch er genoß die Vorstellung des Fortschritts wie Sekt, was für einen Spanier ein nonkonformistisches Wagnis bedeutete, wie es dem durchliberalisierten mittleren Europa kaum vorstellbar ist. Mit aller Energie will er, daß wir die Zukunft wollen, aber er entwarf keine der möglichen Zukünfte, denn an soziale Utopien glaubte er nicht. Die Utopisten der neueren Zeit beschränken sich auf ein institutionelles Denken, das ihnen zum Beispiel die Verstaatlichung der Produktionsmittel als Heilsgarantie für die Menschheit erscheinen läßt - aber wie und was soll der künftige Mensch sein? Welch ein Vorbild schwebt uns vor und will uns, nachdem die Leitbilder des honnête homme, des Gentleman, des Gebildeten historisiert, damit verfremdet wurden? Was heißt dem in die Zukunft strebenden Geschlecht die Forderung der Bergpredigt: «Darum sollt ihr vollkommen sein ...»?

Der Philosoph will aus Blinden Sehende machen, und diese werden uns gedeihliche Zukunft bereiten; Ortega verkündete es in Madrid und München, wie Platon es in Athen und Syrakus verkündet hatte. Der Erkenntniswollende ist ihm der beispielhaft das Leben und damit die beste aller möglichen Zukünfte Wollende. Die Geschichte ist unser einziger wahrhafter Besitz, den wir erkennen sollen, um nicht in Sackgassen zu laufen, in denen wir schon einmal waren. Ortega sieht beständig die Gefahr von Don Quichotterien: Übernahme des Vätererbes, bloß «um es zu besitzen», erinnert ihn an jene Schlacht zwischen Spaniern und Portugiesen im 17. Jahrhundert, wo das fliehende spanische Heer sich entschloß, sein eigenes Feldlager im Sturm zu nehmen ...

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Also von der Geburt unserer Zukunft aus dem Geiste der Philosophie träumt dieser abendländische Energielehrer, der in manchen Momenten, glitzernd im eigenen Sprachglanz, wie ein spanischer Maurice Barrès, auf ein vorgestelltes Forum tritt. Doch ist er national nicht so beschränkt wie Barrès, vielmehr in allem auf Ausweitung unseres gemeinsamen Bewußtseins bedacht. Auch dabei behilft er sich mit überraschenden Pointen: «Roms Horizont war von der Vergangenheit ein für allemal festgelegt. Der Grund zum Tode Cäsars war das Unverständnis des römischen Traditionalismus für die ungeheure Horizonterweiterung, die sich mit der Eroberung Galliens vollzogen hatte. Der alte Horizont hatte sich verhärtet; ihn dehnen hieß ihn zerbrechen.»

Enge gegen Weite, Brutus gegen Cäsar, der französische Barrès gegen den europäischen Ortega, die erfüllte Aufgabe von gestern gegen die zu erfüllende Aufgabe unserer Zeit, so sah der Ansporner einen geschichtlichen Urgegensatz, der jetzt zu überwinden war. Goethisch gesprochen, forderte er nach der nationalistischen Systole die übernationale Diastole. Der Mord an Cäsar hat Rom nicht von der Zwangslage befreit, seinen Horizont über die ganze alte Welt erweitern zu müssen. Wir aber sollen unsere Zwangslage einsehen, bejahen und die Mittel ausdenken, ihren Zwang zu brechen.

Er redet, ruft, befeuert mit der Brillanz eines Künstlers, der sich und uns Feste bereitet. Sein Auftreten bei uns hatte denselben Reiz wie das eines Ioniers im griechischen Mutterland. Sein Deutsch klang in dem übervollen Saal ähnlich, wie das Friedrichs des Großen getönt haben muß, unbekümmert und selbstvertrauend, auch wenn die Lautgebung nicht glückte und nur Anklänge an das gemeinte Wort zuwege brachte. Für ihn gab es keine Pyrenäen mehr, zur selben Zeit, als sein Landsmann Unamuno sie erhöhen und Spanien ganz auf seine Hispanidad festlegen wollte, ein Insichgehen bis in die mystischen Gründe der Landesseele und ihrer christlichen Urformen fordernd.

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Als Ortega gegen Mitte der zwanziger Jahre bei uns erstmals übersetzt wurde - von Helene Weyl -, als die ersten entdeckenden Aufsätze über ihn erschienen - von Ernst Robert Curtius und von Fritz Ernst -, war Deutschland noch unter dem Eindruck der lyrischen Untergangsprophetie Spenglers, nach welcher das Abendland als Kultureinheit seinen Lebenskreis ausgeschritten habe und in seine biologische Altersphase getreten sei. Dieser Stimmung, die Frankreich nach dem verlorenen Krieg 1871 auch befallen hatte (Renan!), setzte Ortega seine «vitale Vernunft» entgegen, mit dem Glauben an die seit zweieinhalb Jahrtausenden als unerschöpfbar erwiesene Vitalität unserer Kultur. Unser Lebensgesetz sei die sich immer wiederholende Renaissance, falls wir sie wollen. Unser Mut bestimme unser Fatum, sobald er den defaitistischen Kapitän über Bord geworfen habe und den Kurs befehle.

Vortrag von Joeè Ortega y Gasset im Operntheater, Madrid, 1931.
Photographiert von Alfonso Sánchez Portela (1902-1990). [Quelle]
Zu Europa sprach er wie Fichte nach der Niederlage Preußens zur deutschen Nation, wobei er für uns noch die einflußreiche Glaubwürdigkeit des Fremdlings, der uns zugleich Bruder ist, auf seiner Seite hatte. Es scheint, daß der zukunftsbesessene Optimismus eine in und zwischen den Völkern fluktuierende, dem Leben selber eingeborene Kraft ist, die auch in der Verkleidung von Anklage, Enderwartung, radikaler Verneinung auftreten kann. Daß Schopenhauer alt wurde, ist ein Zeugnis dafür, daß das Leben selber auf seiner Seite und mit der Infragestellung, in die er es zog, einverstanden war, da auch diese noch zu seiner Fülle gehört und offenbar in einem geistigen Ganzheitsgebilde ebenfalls vorhanden sein muß. Die sogenannte zersetzende Kritik ist eine Folge der Stärke, nicht eine Ursache der Schwäche: Spanien hat kaum einen strengeren Kritiker ertragen müssen als Ortega und hat keinen belebenderen gehabt als ihn.

In der deutschen Wissenschaft war er seit seiner Studentenzeit ganz zu Hause; er betrat zwanglos alle Zimmer und redete mit, weil ihn alles anging, fesselte, reizte und weil jedes Gespräch, in das er sich mischte, die Prozesse seines eleganten Zugriffs zu verlangen schien. Als er Dilthey und den universalen Zug des deutschen Historismus entdeckte, erklärte er die «historische Vernunft» als das Gebot einer Epoche, die sich umgewälzt habe und, um eine Spiralenwindung höher, ungefähr dort angelangt sei, von wo die Vorsokratiker einst ausgegangen seien, Parmenides und Heraklit, «Giganten der Unzufriedenheit», Erkunder und Einüber neuer Verhaltensweisen des Geistes. Sie, die Entdecker von unentdecktem Leben, das im Bewußtsein die Frühformen aller Wissenschaft annimmt, sie gelten ihm als vorbildlich für uns, denn wer hätte Perspektiven von solchem Zukunftsgehalt aufgetan?

Das Archaische, umwittert von Möglichkeiten der Schöpfung und ihrem musischen Appell an den Menschen, hat ihn bezaubert wie seinen Landsmann und Zeitgenossen Picasso; er spürt und läßt uns spüren den Überschwang frisch erschlossener Lebensfülle in beginnlicher Erkenntnis. Auf neuer Stufe wären wir in derselben Lage: zurückschlüpfen in eine Frühzeit können wir nicht, aber mit ihrem Geistesmut wetteifern, das sollten wir, wenn nicht können, so doch wagen. Was ein Denker, der unsere moralische Verpflichtung zu schöpferischen Überwindungen unterbaut, nicht zu bedenken braucht, ist das Gnadenhafte am Erscheinen allen Genies. Fordern kann man Genie, damit rechnen nicht, darauf hoffen soll man jeden Tag. Der Ansporner war überzeugt, daß es Europa daran nie fehlen werde, und dennoch hört man einen Beiklang von Ironie und Selbstironie in seinem Aufruf an die Jugend: «Wir sind zu einem Punkt gelangt, wo unser einziges Heilmittel nur darin besteht, zu erfinden, und zwar auf allen Gebieten zu erfinden. Man könnte sich keine herrlichere Aufgabe denken. ,Erfindet!' so heißt die Parole. Also gut, ihr jungen Leute, auf denn!»

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Dies steht in dem Bande Vergangenheit und Zukunft im heutigen Menschen. Da stehen zugespitzte Dinge, wie er sie liebte, etwa, daß es nicht immer und selbstverständlich Philosophie, die Bereiterin fruchtbarer Epochen, gegeben habe, sondern daß sie «eines Tages» in Griechenland erfunden worden sei. Fast weiß er, an welchem. Heute ist es so, daß alle Philosophien, zudem aber das sie mitbegründende Prinzip der Logik in Frage gestellt sind. Der Herrschaft der Logik wurde, zugespitzt gesprochen, durch das Theorem von Gödel das überhelle Lebenslicht ausgeblasen, indem da nachgewiesen wird, daß das, was man unter Logik verstanden hat, eine Utopie war, eine königliche Arbeitshypothese, als solche undurchschaut, die seit Aristoteles ergiebig war. Unser Philosoph trauert nicht über den umgestürzten Thron; in seinem Mastkorb fühlt er sich wohl von allen Winden umpfiffen, aber geborgen. Erfindet! ruft der Künstler aus ihm, der an die Unerschöpflichkeit der Phantasie glaubt wie an die der lebendigen Meere, auf denen er mit aufgerissenen Augen dahinfuhr.

Quelle: "Ortega deutsch" in Max Rychner: Arachne. Aufsätze zur Literatur. Manesse, Zürich, 1957, Seite 144 - 153

Es gelang mir nicht, ein zuverlässiges Bild von Max Rychner aufzutreiben. Beim Bilder-Googeln nach diesem Namen erscheint stattdessen eine Blütenlese der internationalen literarischen Prominenz des 20. Jahrhunderts. Versuchen Sie's selbst.

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CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 27 MB
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