Demgegenüber wollten wir, wenn wir die sechs Werke an einem einzigen Abend spielten, diese in ihrer chronologischen Folge aufführen. Immerhin umspannen Bartóks Streichquartette einen Zeitraum von etwas mehr als 30 Jahren; jedes Werk hat seine eigene Prägung und repräsentiert eine bestimmte Stufe der musikalischen Entwicklung des Komponisten. In drei Stunden und 40 Minuten - mit zwei Unterbrechungen - konnten wir Bartóks Weg sozusagen noch einmal durchlaufen. Bei den Vorbereitungen für dieses Konzert hatten wir unser Augenmerk vor allem auf zwei recht unterschiedliche Probleme zu richten: Wir mussten alle sechs Quartette gleichzeitig im Kopf und in den Fingern haben, und wir mussten das körperliche Durchhaltevermögen sowie die notwendige Konzentration entwickeln, um alle Werke mit gleicher Intensität und mit gleicher Überzeugungskraft im Laufe eines so langen Abends spielen zu können. Natürlich wollten wir auch möglichst viele Zuhörer gewinnen. Doch noch entscheidender war es für uns zu erreichen, dass alle Hörer bis zum Ende des Konzerts ausharrten. Uns war durchaus klar, dass die Anforderungen, die an die Konzertbesucher gestellt werden, beinahe so groß wie die unseren sein würden. Doch bei dem Gedanken, dass unser Programm ja noch kürzer war als viele Opernaufführungen, ließen wir unsere Befürchtungen fallen.
Die Folgerichtigkeit, mit der sich Bartóks musikalischer Weg für uns an jenem Abend vollzog, ließ auch die letzten Zweifel verfliegen, die wir oder unsere Freunde noch gehabt haben mögen. Das am seltensten aufgeführte Erste Quartett in seinem jugendfrischen Ungestüm und dem romantisch-schwärmerischen Ton bildete sozusagen einen leichteren Einstieg für die schweren Werke, die noch folgten.
Das während des Ersten Weltkriegs komponierte Zweite Quartett ist mit seinen drei Sätzen ein Werk des Übergangs - sowohl zeitgeschichtlich als auch musikalisch-stilistisch. Die inhaltliche Spannbreite reicht von herb-süßer und elegischer Stimmung im ersten Satz, stampfender, vorwärtsdrängender Rhythmik im zweiten bis zu völlig neuen Klangwelten im Finalsatz. Dieser Satz wird beherrscht von scharfen Harmonien, von nüchternen Dialogen unterschiedlicher Instrumentenpaare und ungeheuren Accelerandi mit erstarrten Höhepunkten.
Das erstaunlich kurze, prägnante Dritte Quartett zeigt - ebenso wie die strenge formale Logik des Vierten - Bartók von seiner experimentierfreudigsten und harmonisch dissonantesten Seite. Um 1934, als das Fünfte Quartett entstand, hatte sich Bartóks Harmonik entschieden beruhigt - Fazit einer neuerlichen und verstärkten Beschäftigung mit folkloristischem Material, vor allem mit den modalen Tonleitern des Balkans und Vorderasiens. In den langsamen Sätzen beider Werke finden sich geradezu atemberaubend schöne Beispiele vertrauter Dreiklangsharmonik.
Das Sechste Quartett wurde im Jahre 1939 kurz vor und nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs komponiert. Ähnlich wie im Zweiten Quartett spürt man auch hier die Wucht der historischen Ereignisse. Es ist das letzte Werk, das Bartók noch, in seiner Heimat vollendete, bevor er 1940 fliehen musste. Das Sechste Quartett ist von einer durchgehend melancholisch-düsteren Grundstimmung, die nicht einmal durch die Heiterkeit der beiden folgenden Sätze »Marcia« und »Burletta« gemildert wird, denn deren »Heiterkeit« ist nicht von unbeschwerter Art, sondern wirkt höhnisch und grotesk. Im letzten Satz schließlich vertieft sich die Melancholie vollends zur Tragik. Am Ende erklingen noch einmal, vom Cello gezupft, die ersten fünf Töne des »Mesto«-Themas, jenes Themas, das den ersten Satz einleitet, im weiteren Verlauf vielfältig entwickelt wird und als »Kernthema« alle Sätze durchzieht. Die Harmonik und die melodische Aufwärtsbewegung in dieser letzten Phrase erscheinen wie ein Hoffnungsschimmer inmitten aller Düsterkeit. Als wir an jenem Abend im März 1981 diese letzten Noten erreicht hatten, erlebten wir den Schluss des Werkes auf eine völlig neue Weise, ganz anders als in einem »gemischten« Programm. Die Verzweiflung, die Resignation, der nur kurze Augenblick der Hoffnung - dies alles wurde erhellt von den Stunden und der Musik, die jenen Tekten des Abschieds vorausgegangen waren. Diese Quartette hatten uns und unsere Zuhörer zugleich einen Teil von Bartóks eigenem Leben erfahren und nacherleben lassen. Wir waren gemeinsam verzaubert worden von der überirdischen Atmosphäre im letzten Satz des Sechsten Quartetts.
1983 haben wir die Quartette noch zweimal in dieser Form aufgeführt: in Frankfurt und wiederum in New York in einem Konzert für Frieden und Abrüstung. Unser zweiter Auftritt in New York, mit dem wir zugleich unsere Hoffnung und unseren Wunsch für den Fortbestand der Menschheit zum Ausdruck bringen wollten, schien uns besonders dazu geeignet, Bartóks Zyklus zu spielen: Er stellt nicht nur den bedeutendsten Beitrag zur Gattung des Streichquartetts seit Beethoven dar, sondern ist auch ein musikalisches Dokument, das stark geprägt ist von den historischen Ereignissen seiner Zeit.
© 1988 Eugene Drucker (Übersetzung: Siegmer Keil): Das Emerson String Quartet spielt Bartok, im Booklet
CD 2 Track 12 - String Quartet no. 6 - IV. Mesto
Emerson String Quartet (1988)
TRACKLISTCD 1 Track 8 - String Quartet no. 5, - II. Adagio molto
Béla Bartók (1881-1945)
The 6 String Quartets - Die 6 Streichquartette - Les 6 Quatuors à cordes
EMERSON STRING QUARTET
Eugene Drucker violin I (nos. 1, 4, 5), violin II (nos. 2, 3, 6),
Antonio Stradivari, Cremona 1686
Philip Setzer violin I (nos. 2, 3, 6), violin II (nos. 1, 4, 5),
Sanctus Seraphin, Venezia 1734
Lawrence Dutton viola/alto
Pietro Giovanni Mantegazza, Milano 1796
David Finckel cello
Jean-Baptiste Vuillaume, Paris 1825
CD 1 [72'47]
String Quartet no. 1 op. 7, Sz 40 [1908-09] [28'55]
[01] 1. Lento - attacca: [9'16]
[02] 2. Poco a poco accelerando all'Allegretto - [8'11]
Introduzione. Allegro - attacca:
[03] 3. Allegro vivace [11'28]
String Quartet no. 3, Sz 85 [1927] [13'54]
[04] 1. Prima parte. Moderato - attacca: [4'20]
[05] 2. Seconda parte. Allegro - attacca: [5'09]
Ricapitulazione della prima parte. Moderato
[06] 3. Coda. Allegro molto [4'25]
String Quartet no. 5, Sz 102 [1934] [29'37]
[07] 1. Allegro [7'20]
[08] 2. Adagio molto [5'52]
[09] 3. Scherzo. Alla bulgarese [4'56]
[10] 4. Andante [4'47]
[11] 5. Finale. Allegro vivace [6'42]
CD 2 [76'23]
String Quartet no. 2 op. 17, Sz 67 [1915-17] [26'48]
[01] 1. Moderato [10'11]
[02] 2. Allegro molto capriccioso [7'19]
[03] 3. Lento [9'18]
String Quartet no. 4, Sz 91 [1928] [21'23]
[04] 1. Allegro [5'38]
[05] 2. Prestissimo, con sordino [2'47]
[06] 3. Non troppo lento [5'12]
[07] 4. Allegretto pizzicato [2'41]
[08] 5. Allegro molto [5'05]
String Quartet no. 6, Sz 114 [1939] [27'51]
[09] 1. Mesto - Più mosso, pesante - Vivace [7'06]
[10] 2. Mesto - Marcia [7'27]
[11] 3. Mesto - Burletta [6'57]
[12] 4. Mesto [6'21]
These recordings are dedicated to Katia Elena Setzer. who was
born sametime between the sessions for the Second and Third Quartets.
Recording: New York, American Academy and Institute of Arts and Letters, 1/1988 (nos. 2,3,6), 2/1988 (no. 4) & 3/1988 (nos. 1,5)
Executive Producer: Dr. Steven Paul
Recording Producer: Wolf Erichson
Tonmeister (Balance Engineer): Peter Laenger
Recording Engineers: Volker Martin/Jobst Eberhardt/Manfred Bartel
Mastered by Emil Berliner Studios
DDD
(P) 1988
Emerson String Quartet (1988)
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Das Juilliard String Quartet in der Originalbesetzung von 1952: Robert Mann und Robert Koff (Violine), Raphael Hillyer (Viola), Arthur Winograd (Cello) |
TRACKLIST
Béla Bartók (1881-1945) 67'35
Quatuor no 3 (Sz. 85)
[01] Prima parte: moderato 4'34
[02] Seconda parte: allegro 5'29
[03] Ricapitulazione della prima parte: moderato - attacca 3'07
[04] Coda: allegro molto 1'30
Quatuor no 4 (Sz. 91)
[05] I. Allegro 6'08
[06] II. Prestissimo, con sordino 2'42
[07] III. Non troppo lento 5'37
[08] IV. Allegretto pizzicato 2'48
[09] V. Allegro molto 5'36
Quatuor no 5 (Sz. 102)
[10] I. Allegro 7'19
[11] II. Adagio molto 6'01
[12] III. Scherzo: alla bulgarese 4'35
[13] IV. Andante 4'59
[14] V. Finale: allegro vivace 6'54
JUILLIARD STRING QUARTET
Robert Mann, violin
Robert Koff, violin
Raphael Hillyer, viola
Arthur Winograd, cello
Enregistré en 1949
(P) 2002
CD Bonus Track 11 - String Quartet no. 5 - II. Adagio molto
Juilliard String Quartet (1949)
Courbet und der Jura
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Gustave Courbet: Ein Begräbnis in Ornans, 1849-50, Öl auf Leinwand, 314 x 663 cm, Musée d’Orsay, Paris |
Vor einigen Jahren schrieb ich, man müsse bei Courbet zwei Dinge erklären, die immer noch unverständlich seien. Einmal die wahre Beschaffenheit der Materialität, der Dichte, der Gewichtigkeit seiner Bilder; zum anderen die eigentlichen Gründe dafür, daß sein Werk die bourgeoise Kunstwelt so entsetzt hat. Die zweite Frage ist inzwischen in hervorragender Weise beantwortet worden, und zwar nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, durch einen französischen Gelehrten, sondern durch einen Briten und eine Amerikanerin: durch Timothy Clark in seinen zwei Büchern Image of the People (»Abbild des Volkes«) und The Absolute Bourgeois (»Der absolute Bourgeois«), und durch Linda Nochlin in ihrem Buch über Realismus.
Die erste Frage aber bleibt unbeantwortet. Theorie und Programm des Courbetschen Realismus sind soziologisch und historisch erklärt worden, doch wie praktizierte er ihn mit Augen und Händen? Wo liegt die Bedeutung der einmaligen Art und Weise, in der er Erscheinungen darstellte? Als er sagte: »Kunst ist der vollständigste Ausdruck einer Existenz« - was verstand er da unter Ausdruck? ![]() |
Gustave Courbet: Die Steinklopfer, 1849, Öl auf Leinwand, 1849, Gemäldegalerie Dresden, 1945 verbrannt |
Die Gegend weist eine außerordentlich hohe Niederschlagsmenge auf: etwa 130 cm im Jahr, während sie im übrigen französischen Flachland zwischen 79 cm im Westen und 41 cm im Zentrum liegt. Der größte Teil des Regens sickert durch das Kalkgestein und bildet unterirdische Kanäle. Die Loue strömt an ihrer Quelle bereits als ziemlich mächtiger Fluß aus den Felsen hervor. Es ist eine typische Karstlandschaft, charakterisiert durch offenliegendes Kalkgestein, tiefe Täler, Höhlen und Falten. Auf den waagerechten Kalkstein-Flözen hat sich häufig Mergel abgelagert, so daß auf den Felsen Gras und Bäume wachsen. Man sieht diese Formation - eine sehr grüne Landschaft, nah am Himmel durch einen horizontalen grauen Felsriegel geteilt - in vielen Bildern Courbets, unter anderem auch im Begräbnis in Ornans. Doch ich glaube, daß diese Landschaft und Geologie Courbet mehr als nur in szenischer Hinsicht beeinflußt hat.
So eine Landschaft kann die Sehgewohnheiten eines ganzen Lebens prägen. Man stelle sich einmal vor, wie man dort normalerweise etwas zu sehen bekommt. Die die Landschaft durchziehenden Falten lassen sie im allgemeinen hoch erscheinen: der Himmel ist weit weg. Der bestimmende Farbton ist grün: dagegen zeichnen sich vor allem die Felsen ab. Der Hintergrund dessen, was man im Tal sieht, ist dunkel - so, als ob die Dunkelheit der Höhlen und der unterirdischen Gewässer das Sichtbare durchdrungen hätte. ![]() |
Gustave Courbet: Pierre-Joseph Proudhon und seine Kinder, 1865, Öl auf Leinwand, 147 x 198 cm, Musée du Petit Palais, Paris |
Viele dieser Eigentümlichkeiten sind in Courbets Kunst übergegangen, auch wenn das Sujet nicht mehr seine heimatliche Landschaft ist. Außergewöhnlich viele seiner figürlichen Malereien außerhalb des Ateliers haben wenig oder keinen Himmel. (Die Steinklopfer, Proudhon und seine Familie, Mädchen auf dem Seineufer, Die Hängematte, die meisten Ausführungen der Badenden). Das Licht ist das Seitenlicht des Waldes, das dem mit der Perspektive spielenden Licht unter Wasser nicht unähnlich ist. Die Riesendarstellung des Atelier ist deswegen so verwirrend, weil das Licht der gemalten Waldlandschaft auf der Staffelei das Licht ist, das den ganzen, von Menschen erfüllten Pariser Raum durchdringt. Eine Ausnahme macht das Bild Bonjour Monsieur Courbet, das ihn und seinen Auftraggeber vor dem Hintergrund des Himmels zeigt. Hier hat Courbet jedoch ganz bewußt die weitläufige Ebene von Montpellier als Schauplatz gewählt.
Ich vermute, daß Wasser, in der einen oder anderen Form, in etwa zwei Dritteln von Courbets Gemälden vorkommt - oft im Vordergrund. (Das ländlich-bürgerliche Haus, in dem er geboren wurde, ragt über den Fluß hinaus. Fließendes Wasser muß einer seiner frühesten akustischen und optischen Eindrücke gewesen sein.) Kommt in seinen Bildern kein Wasser vor, lassen einen die Formen im Vordergrund sehr oft an die Strömungen und Wirbel von fließendem Wasser denken (z.B. bei der Frau mit dem Papagei und der Schlafenden Spinnerin). Die gelackte Frische der Objekte, die in seinen Gemälden das Licht auf sich ziehen, erinnert einen oft an die Leuchtkraft von Kieseln oder Fischen unter Wasser. Die Farbgebung seiner Darstellung eines Forellenteiches entspricht der Farbgebung seiner anderen Bilder. Es gibt ganze Landschaften von Courbet, die von einem Tümpel reflektiert sein könnten; die Farbe schimmert feucht auf der Oberfläche und trotzt allen Gesetzen atmosphärischer Perspektive (zum Beispiel in den Felsen bei Mouthier). ![]() |
Gustave Courbet: Die jungen Mädchen auf dem Seineufer (Sommer), 1856-57, Öl auf Leinwand, 174 x 200 cm, Musée du Petit Palais, Paris |
Übereinstimmungen dieser Art lassen eine enge Beziehung zwischen Courbets Praxis als Maler und der Landschaft, in der er aufwuchs, ahnen. Aber damit hat man die Frage, welche Bedeutung er den Erscheinungen gab, noch nicht beantwortet. Wir müssen die Landschaft weiter befragen. Felsen sind die hervorstechendste Konfiguration dieser Landschaft. Sie verleihen Identität, bieten dem Blick Anhaltspunkte. Die zutage tretenden Felsen erzeugen die Präsenz der Landschaft. Gesteht man dem Begriff seine volle Tragweite zu, kann man von Steingesichtern sprechen. Die Felsen stellen den Charakter, die Seele der Gegend dar. Proudhon, der aus der gleichen Gegend stammte, schrieb: »Ich bin reines Jurakalkgestein.« Courbet, prahlerisch wie immer, behauptete, daß er in seinen Bildern »sogar die Steine zum Denken bringe«.
Ein Steingesicht ist immer da. (Man braucht nur an die Zehn-Uhr Straße genannte Landschaft im Louvre zu denken.) Es dominiert und will gesehen werden, doch erscheint es immer wieder anders, je nach Licht und Wetter. Das Bild bietet dem Betrachter unaufhörlich verschiedene Facetten seiner selbst an. Verglichen mit einem Baum, einem Tier, einer Person, ist seine Erscheinungsform in nur sehr geringem Maße vorgegeben. Ein Felsen kann beinahe jedes Aussehen annehmen. Er ist unbestritten, was er ist, und dennoch ist er durch seine Substanz nicht von vorneherein auf eine bestimmte Form festgelegt. Er existiert nachdrücklich, und dennoch ist seine Erscheinungsform (nur von einigen wenigen, sehr allgemeinen geologischen Gegebenheiten eingeschränkt) beliebig. Der Felsen ist nur jetzt gerade so, wie er ist. Seine jeweilige Erscheinung entscheidet über seine Bedeutung.
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Gustave Courbet: Die Hängematte, 1844, Öl auf Leinwand, 70,5 x 97 cm, Museum Oskar Reinhart am Stadtgarten, Winterthur |
Im frühen, romantischen Selbstportrait mit einem Hund zeigt er sich vor einem großen Felsblock, umrahmt von der Dunkelheit seines Umhangs und seines Huts. Er hat darin sein eigenes Gesicht und seine eigenen Hände mit exakt der gleichen Einstellung gemalt wie den Stein dahinter. Sie stellten für ihn vergleichbare visuelle Phänomene dar, verfügten über dieselbe visuelle Realität. Wenn Sichtbarkeit gesetzlos ist, gibt es keine Hierarchie der Erscheinungsformen. Courbet malte alles - Schnee, Fleisch, Haar, Fell, Kleider, Borke - so wie er es gemalt hätte, wenn es ein »Steingesicht« gewesen wäre. Er hat nie etwas gemalt, das Innerlichkeit besitzt, - die hat, erstaunlicherweise, nicht einmal seine Kopie eines Selbstportraits von Rembrandt - aber alles ist voller Verwunderung abgebildet: voller Verwunderung, weil Sehen, wo keine Gesetze vorhanden sind, bedeutet, ständig überrascht zu werden.
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Gustave Courbet: Die schlafende Spinnerin, 1853, Öl auf Leinwand, 91 x 115 cm, Musée Fabre, Montpellier |
Es fällt schwer, Timothy Clarks überzeugende und differenzierte Untersuchung über Courbet in ein paar Sätzen zusammenzufassen. Er gibt uns die Möglichkeit, die ganze Komplexität des politischen Zeitraums zu sehen. Er weist den Legenden, die den Maler umgeben, ihren Platz zu: der Legende des ländlichen Possenreißers mit dem hochbegabten Farbpinsel; der Legende des gefahrlichen Revolutionärs; der Legende des groben, betrunkenen, schenkelschlagenden Provokateurs. (Das wahrste und vielleicht sympathischste Portrait von Courbet ist das von Jules Valles in seinem Cri du Peuple.)
Dann zeigt Clark, wie Courbet in den großen Werken der frühen 1850er Jahre mit seinem maßlosen Ehrgeiz, seinem echten Haß auf die Bourgeoisie, mit seiner ländlichen Erfahrung, seiner Liebe zur Theatralik und einer außerordentlichen Intuition sich tatsächlich auf nichts geringeres einließ als auf eine doppelte Transformation der Malerei. Doppelt, weil sie eine Transformation von Bildgegenstand und Publikum umfaßte. Einige Jahre lang konnte er seine Inspirationen aus der Hoffnung auf die Popularisierung dieser Ideale schöpfen.
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Gustave Courbet: Felsen bei Mouthier, 1863, Öl auf Leinwand, Philips Collection, Washington |
Ein Beispiel: die Praxis der Akt-Malerei war eng verbunden mit Werten des Takts, des Luxus und des Wohlstands. Der Akt war ein erotisches Ornament. Courbet stahl die Praxis der Aktmalerei und benutzte sie, um die »vulgäre« Nacktheit einer Landfrau darzustellen, deren Kleider in einem unordentlichen Haufen am Flußufer liegen. (Später, als die Desillusionierung einsetzte, schuf auch er erotische Ornamente wie Die Frau mit einem Papagei.)
Ein Beispiel: die Praxis des spanischen Realismus des 17.]ahrhunderts war eng verbunden mit dem religiösen Prinzip, daß Einfachheit und Strenge moralischen Wert besitzen und Klarheit Würde verleiht. Courbet stahl die Praxis und benutzte sie in den Steinklopfern, um die verzweifelte, unerbittliche ländliche Armut zu zeigen.
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Gustave Courbet: Die Loue-Quelle, 1864, Öl auf Leinwand, 98 x 130 cm, National Gallery of Art, Washington |
Der Jäger aus dem Jura, der ländliche Demokrat und der Malerbandit haben sich für wenige Jahre, zwischen 1848 und 1856, im selben Maler zusammengefunden, um einige schockierende und einmalige Bilder zu schaffen. Alle drei betrachteten Erscheinungen als direkte, relativ konventionslos vermittelte Erfahrungen, die genau aus diesem Grund verblüffend und unberechenbar waren. Alle drei sahen die Welt gleichzeitig nüchtern (was Courbets Gegner als vulgär bezeichneten), und unschuldig (was Courbets Gegner dumm fanden). Nach 1856, während der Ausschweifungen des Zweiten Kaiserreichs, hat nur noch der Jäger manchmal Landschaften geschaffen, die anders waren als die irgend eines anderen Malers; Landschaften, auf denen Schnee liegen bleiben konnte.
Im Begräbnis, das zwischen 1849 und 1850 entstand, können wir etwas von der Seele Courbets erkennen, dieser einen Seele, die in verschiedenen Momenten Jäger, Demokrat, und Malerbandit war. Trotz seines Lebenshungers, seiner Aufschneiderei und seines sprichwörtlichen Lachens war Courbets Lebensauffassung düster, wenn nicht tragisch.
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Gustave Courbet: Die Quelle & Badende an einer Quelle, 1868, Öl auf Leinwand, 128 x 97 cm, Musée d‘Orsay |
Aus dieser Dunkelheit tauchen die Gesichter von Courbets Familienangehörigen, Freunden und Bekannten aus Ornans auf, die ohne Idealisierung und ohne Häme gemalt sind, ohne daß auf eine vorgegebene Norm zurückgegriffen wird. Das Gemälde wurde als zynisch, frevlerisch und roh bezeichnet. Man behandelte es wie eine Verschwörung. Doch um was ging es in dieser Verschwörung? Um einen Kult der Häßlichkeit? Um gesellschaftliche Unterwanderung? Um einen Angriff auf die Kirche? Die Kritiker suchten das Gemälde vergeblich nach irgendwelchen Anhaltspunkten ab. Niemand hat entdeckt, worauf das Subversive zurückzuführen war.
Courbet hatte eine Gruppe von Männern und Frauen gemalt, so wie sie bei einem Dorfbegräbnis erscheinen könnten, und er hatte sich geweigert, diesen Anblick zu organisieren (das heißt, ihn zu harmonisieren) und ihm so irgendeine falsche - oder auch wahre - höhere Bedeutung zu verleihen. Er hatte sich geweigert, der Kunst eine Funktion als Vermittlerin der Erscheinungen, die das Sichtbare adelt, zuzugestehen. Statt dessen hatte er, in Lebensgröße, auf einundzwanzig Quadratmetern Leinwand, eine Versammlung von Gestalten am Grabesrand gemalt, die nichts ausdrückte als: so sehen wir aus. Und genau in dem Maße, wie das Kunstpublikum in Paris diese Mitteilung vom Land aufnahm, leugnete es ihren Wahrheitsgehalt, indem es sie als bösartige Übertreibung bezeichnete. ![]() |
Gustave Courbet: Selbstporträt mit schwarzem Hund, 1842, Öl auf Leinwand, 46 x 56 cm, Musée du Petit Palais, Paris |
Quelle: John Berger: Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens, Berlin, 1989, ISBN 3 8031 1114 5, Seite 78-86 [Kritik zum Buch]
Dem Infopaket liegt ein Text von Klaus Herding zu Courbets Realismus und seine Lichtmalerei bei. [Quelle]
Weitere Artikel über Courbet:
- Die Welt, 01.11.2007
- Zeit Online, 04.11.1977
- World Socialist Web Side, 22.01.2011
- Lexikon der Kunst in zwöf Bänden, Karl Müller Verlag, 1994
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Reposted on March, 7th, 2016
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